Gerichte prüfen Grenzen, Plattformen führen Konkurrenzkrieg, Patienten behalten die Wahl
Wie DoktorABC, Versandapotheken und Wettbewerber um das Zuweisungsverbot streiten und was der Frankfurter Beschluss für die Telemedizin bedeutet
Die Telemedizin ist längst nicht mehr nur ein Versprechen für strukturschwache Regionen, sondern ein juristisches Schlachtfeld, auf dem wirtschaftliche Interessen, patientenrechtliche Ideale und regulatorische Grenzen aufeinanderprallen. Im Mittelpunkt des aktuellen Konflikts steht die Plattform DoktorABC, die Rezepte für Medizinalcannabis ausstellt und zusammen mit ausgewählten Versandapotheken einen Premium-Lieferservice anbietet – ein Service, der aus Sicht mancher Marktteilnehmer gegen das apothekenrechtliche Zuweisungsverbot nach § 11 Apothekengesetz (ApoG) verstoßen könnte. Doch das Landgericht Frankfurt am Main sieht das in einem aktuellen Beschluss anders – und spricht ein bemerkenswertes Urteil mit weitreichender Signalwirkung für die gesamte Branche aus. Die Entscheidung vom 28. Mai 2025 (Az. 2-06 O 150/25) weist einen Antrag auf einstweilige Verfügung gegen eine mit DoktorABC kooperierende Berliner Apotheke zurück. Der Kläger: kein Verband, sondern ein Wettbewerber mit eigenem Plattformangebot – Can Ansay, Betreiber von DrAnsay, einer konkurrierenden Telemedizindienstleistung. Der Vorwurf: Die voreingestellte Apothekenwahl in der Bestellstrecke der Plattform verstoße gegen das Verbot unzulässiger Rezeptzuweisungen und behindere die freie Wahl der Apotheke.
Dabei ist das Grundproblem der Fallkonstellation nicht neu: Immer wieder beschäftigen sich Gerichte mit der Frage, ob die Bündelung von Rezeptausstellung und Belieferung durch wirtschaftlich oder technisch verknüpfte Partner eine unzulässige Beeinflussung darstellt – oder ob sie eine legitime Komfortlösung für Verbraucher bietet. Schon das Landgericht Hamburg hatte im November 2024 DoktorABC eine direkte Rezeptzuweisung untersagt – ein Hinweis, den auch das Frankfurter Gericht aufnimmt, jedoch anders einordnet. Denn anders als in Hamburg steht in Frankfurt nicht die Plattform selbst, sondern eine kooperierende Apotheke im Fokus. Und die Richter erkennen in der streitigen Konstellation keine relevante Absprache im Sinne des § 11 ApoG, die den Schutzzweck der Norm verletze.
Nach Auffassung der Frankfurter Kammer liegt keine Rezeptzuweisung vor, wenn die Auswahl des Lieferwegs – also ob Premiumversand durch eine Partnerapotheke oder Selbstwahl der Offizinapotheke – dem Patienten transparent zur Entscheidung überlassen wird. Maßgeblich sei, dass Kunden auf der Plattform die Option „elektronisches Rezept ohne Medikamente“ wählen können, die ihnen explizit ermögliche, eine Apotheke eigener Wahl zu bestimmen. Zwar sei der Premium-Lieferservice technisch hervorgehoben und defaultmäßig ausgewählt, dennoch könne nicht von einer zwangsweisen oder versteckten Zuweisung gesprochen werden, solange die Alternativoption sichtbar und funktionsfähig angeboten werde. In der Gesamtschau fehle es an der erforderlichen Finalität und Ausschließlichkeit einer Absprache, wie sie das Apothekengesetz sanktioniert.
Das Gericht unterstreicht damit die Bedeutung der Nutzerautonomie und schränkt den Anwendungsbereich des § 11 ApoG bewusst eng ein. Es verweist auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der eine Rezeptzuweisung dann nicht vorliegt, wenn dem Patienten eine neutrale und eigenverantwortliche Wahl zwischen mehreren Apotheken offensteht. Damit folgt das LG Frankfurt einem systematischen Rechtsverständnis, das Plattformintegration und Wahlfreiheit nicht grundsätzlich als unvereinbar ansieht – solange die Wahlmöglichkeit nicht technisch oder faktisch ausgehöhlt wird.
Der unterlegene Antragsteller indes argumentiert mit genau dieser faktischen Einschränkung: Dass viele Nutzer durch die Default-Einstellung des Premiumversands die Alternativmöglichkeit gar nicht wahrnehmen und so in eine Abhängigkeitsstruktur gedrängt würden, die mit dem apothekenrechtlichen Trennungsgebot nicht vereinbar sei. Zudem erhob er in der mündlichen Verhandlung den Vorwurf, der beklagte Apotheker sei durch die Klägerin selbst unter Druck gesetzt worden – mit dem Ziel, einen Plattformkonkurrenten „zu vernichten“. Das Gericht bewertet diese Aussagen als nachrangig und lässt sie für die Entscheidung unberücksichtigt.
Bemerkenswert an dem Verfahren ist weniger das juristische Ergebnis – sondern die politische und marktdynamische Bedeutung. Der Konflikt zwischen DoktorABC, DrAnsay und anderen Akteuren wie Fernarzt oder Zava ist längst ein Konkurrenzkampf, bei dem nicht nur um Marktanteile, sondern um die Definitionsmacht über digitale Versorgungsmodelle gerungen wird. Dabei bleibt die Regulierung hinter der Realität der Plattformlogiken zurück. Denn faktisch liegt die Macht über die Rezeptausstellung, -weitergabe und -belieferung in den Händen algorithmisch gesteuerter Nutzerpfade – nicht in den Händen von Ärzten oder Apothekern. Dass Patienten theoretisch wählen können, ist gut. Aber wenn diese Wahl hinter Interfaces versteckt wird, ist die Grenze zur indirekten Steuerung schnell überschritten.
Genau hier liegt die strukturelle Schwäche des Frankfurter Beschlusses: Er klammert die manipulative Kraft digitaler Gestaltung aus – und verlässt sich auf formale Transparenzhinweise, wo es funktionaler Prüfmechanismen bedürfte. Eine aktivierte Option mit prominenter Bewerbung ist kein neutraler Startpunkt. Plattformen sind in ihrer Nutzerführung mächtiger als es das traditionelle Verhältnis Arzt–Apotheke je war – das müsste die Rechtsanwendung künftig berücksichtigen. Auch wenn die Entscheidung formal korrekt begründet ist, bleibt ein Regelungsbedarf, der nicht durch Gerichte allein zu lösen ist.
Am Horizont zeichnet sich bereits die nächste Welle juristischer Auseinandersetzungen ab: In Brüssel wird über eine sektorübergreifende Regulierung digitaler Gesundheitsplattformen nachgedacht, während in Deutschland die Anpassung des Apothekengesetzes an hybride Versorgungsformen bisher ausbleibt. Die Gemengelage ist explosiv: Cannabisverordnungen, Geschäftsmodelle, Nutzerführung, technische Schnittstellen, Werberecht, Datenschutz – und mittendrin das Patientenrecht auf Wahlfreiheit.
Was bleibt: Die telemedizinischen Geschäftsmodelle bleiben ein juristischer Drahtseilakt. Wer ihn betritt, braucht mehr als nur Apothekenpartner – er braucht ein belastbares regulatorisches Fundament. Solange dieses fehlt, bleiben Eilverfahren wie das vor dem LG Frankfurt Momentaufnahmen eines größeren Systemkonflikts.
Finanzierung stärken, Versorgung sichern, pDL aufwerten
Warum die Länder auf eine schnelle Apothekenreform drängen, was sie vom BMG fordern und wie die pharmazeutischen Dienstleistungen zum entscheidenden Hebel werden
Die Gesundheitsministerinnen und -minister der Bundesländer fordern vom Bund unmissverständlich eine zeitnahe und umfassende Apothekenreform. Auf der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) am 11. und 12. Juni in Weimar machten sie deutlich: Die wirtschaftliche Lage der Vor-Ort-Apotheken ist so prekär, dass ein weiteres Zögern die Versorgungssicherheit ernsthaft gefährdet. Der Beschluss, nun veröffentlicht auf der GMK-Website, enthält eine klare Botschaft: Der Bund müsse die im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen – insbesondere eine Honoraranpassung, die Dynamisierung der Vergütung und die Stärkung von Präventionsleistungen – ohne weitere Verzögerung umsetzen. Dies sei Voraussetzung, um die flächendeckende Arzneimittelversorgung durch Apotheken vor Ort zu sichern und deren wirtschaftliche Überlebensfähigkeit zu gewährleisten.
Die GMK nimmt damit ein drängendes Thema auf, das die Apothekerschaft seit Jahren bewegt. Die Apothekenzahl sinkt kontinuierlich, weil die gesetzlichen Rahmenbedingungen stagnieren. Seit mehr als zwölf Jahren wurde das Fixhonorar nicht erhöht, und mit dem politisch durchgesetzten Skontoverbot hat sich die ökonomische Situation vieler Betriebe weiter verschärft. Dass eine Apothekenreform kommen soll, steht außer Frage – doch bisher fehlt ein belastbarer Zeitplan. Die Bundesländer erhöhen deshalb nun den politischen Druck auf das Bundesgesundheitsministerium (BMG), das derzeit unter der Leitung von Ministerin Nina Warken steht. Dass Warken selbst an der GMK in Weimar teilnahm, unterstreicht die politische Brisanz. Thüringen, das den Vorsitz der diesjährigen Konferenz innehatte, stellte den thematischen Rahmen unter das Motto Prävention – ein Feld, in dem Apotheken laut GMK künftig eine noch stärkere Rolle spielen sollen.
Ein besonders konkretes Ergebnis der GMK betrifft daher die pharmazeutischen Dienstleistungen (pDL). In einem weiteren Beschluss fordert die Ministerrunde eine deutlich stabilere Finanzierung dieser Leistungen, da das aktuelle System den Apotheken keine verlässliche Honorierung garantiere. Die Attraktivität der pDL müsse dringend gesteigert werden – nicht zuletzt, um die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten sowie Apothekerinnen und Apothekern im Medikationsmanagement zu fördern. Patienten mit chronischen Erkrankungen und Polymedikation seien dabei besonders im Fokus. Die GMK verknüpft damit das Ziel, Versorgungsqualität zu erhöhen, mit einem wirtschaftlichen Appell an das BMG: Ohne verlässliche Gegenfinanzierung gerät das System ins Ungleichgewicht.
Auch im Hinblick auf die flächendeckende Versorgung in strukturschwachen Regionen wird der Reformbedarf sichtbar. Viele Apotheken stehen kurz vor der Schließung oder verzichten auf Nachfolge, weil die Rahmenbedingungen keine nachhaltige Perspektive bieten. Das betrifft nicht nur wirtschaftliche Kennzahlen, sondern auch personelle Strukturen und Zukunftsfähigkeit. In der Debatte um Versorgungssicherheit wird deutlich: Der politische Wille zur Reform reicht nicht aus, wenn es an der konkreten Umsetzung hapert. Die Länder machen daher deutlich, dass nicht nur gesetzliche Maßnahmen gebraucht werden, sondern auch ein gezielter Schulterschluss zwischen Bund, Ländern und Heilberufen.
Im Koalitionsvertrag sind bereits Leitlinien formuliert, doch bislang fehlt es an belastbaren Schritten zur Umsetzung. Die Dynamisierung des Apothekenhonorars, die Stärkung der pDL, die Einbindung in die Prävention – all das ist politisch anerkannt, aber operativ nicht eingelöst. Die GMK-Beschlüsse richten sich daher auch als Mahnung an die Bundesregierung: Der Stillstand gefährdet Strukturen, die sich nicht beliebig wiederherstellen lassen. Die Länder nehmen hier eine koordinierende Rolle ein und versuchen, mit einheitlichen Forderungen gegenüber dem BMG den Druck zu erhöhen.
Vor allem aber richtet sich der Appell an das politische Verantwortungsbewusstsein für ein System, das mehr denn je auf nachhaltige Steuerung angewiesen ist. Die Rolle der Apotheke als niedrigschwelliger Gesundheitsdienstleister ist in Zeiten demografischer Alterung, zunehmender Multimorbidität und digitaler Komplexität zentral. Jede weitere Verzögerung in der Reformumsetzung verlängert nicht nur den wirtschaftlichen Ausnahmezustand, sondern schwächt auch die Versorgungsbasis im Gesundheitssystem insgesamt. Die Forderung der GMK ist deshalb mehr als Symbolpolitik – sie markiert einen Wendepunkt, an dem die Bundesregierung Farbe bekennen muss: für oder gegen die Zukunftsfähigkeit der öffentlichen Apotheke.
Recht, Körper, Selbstbestimmung
Warum das britische Parlament Abtreibungen entkriminalisiert, Deutschland weiter am Paragraf 218 festhält und was das für europäische Gleichberechtigung bedeutet
England und Wales machen ernst mit der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen – und gehen einen Schritt, den Deutschland nicht wagt. In einem historischen Votum hat das britische Parlament mit breiter Mehrheit für einen Änderungsantrag gestimmt, der das fast 150 Jahre alte Grundprinzip des Strafrechts kippt: Schwangerschaftsabbrüche sind künftig nicht mehr grundsätzlich eine Straftat. Diese Neuregelung, eingebracht von der Labour-Abgeordneten Tonia Antoniazzi, ist Teil eines größeren Gesetzespakets, das noch final verabschiedet werden muss – dessen Annahme angesichts der Labour-Mehrheit jedoch als sicher gilt. Künftig sollen Frauen in England und Wales keine strafrechtlichen Konsequenzen mehr fürchten müssen, wenn sie sich für einen Abbruch entscheiden. Zwar bleibt die 24-Wochen-Frist erhalten, ebenso die Pflicht zur Zustimmung zweier Ärztinnen oder Ärzte, doch die Bedrohung durch Polizei, Ermittlungsakte oder Inhaftierung entfällt. Noch steht das Gesetzespaket unter parlamentarischer Nachbearbeitung, doch der Umbruch ist eingeläutet: Die Rechtslage für Schwangere wird neu justiert – und zwar auf Basis von Selbstbestimmung, nicht mehr unter dem Schatten des Strafrechts.
Anders die Lage in Deutschland: Hier bleibt der Schwangerschaftsabbruch gemäß Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs weiterhin formal rechtswidrig. Straflos bleibt der Eingriff nur innerhalb der ersten zwölf Wochen nach einer verpflichtenden Beratung – oder bei medizinischer Indikation und nach Vergewaltigung. Der Gesetzesrahmen stammt aus der Nachkriegszeit, reformiert in kleinen Schritten, aber bis heute im Kern unangetastet. Eine breit getragene Initiative von SPD, Grünen und über 300 Bundestagsabgeordneten, die eine Herauslösung des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafgesetzbuch forderte, ist Anfang des Jahres gescheitert. Trotz gesellschaftlicher Veränderungen und internationaler Vergleiche blieb die notwendige Mehrheit im Parlament aus – mit Konsequenzen nicht nur für die betroffenen Frauen, sondern auch für die rechtspolitische Glaubwürdigkeit eines modernen Staates. Das Signal aus London erhöht nun den Druck: Wenn selbst ein Land wie Großbritannien, lange geprägt von konservativen Normen und patriarchalen Gesetzestraditionen, seine Haltung radikal modernisiert, gerät die deutsche Zurückhaltung zunehmend in Erklärungsnot. Die normative Kraft des Faktischen hat begonnen, den europäischen Rechtsdiskurs neu zu justieren.
Stärkere Therapieakzeptanz, sicherere Arzneimittelanwendung, preisgekröntes Modellprojekt
Wie klinische Pharmazeuten CED-Patient:innen stärken, Medikationsprobleme lösen und Versorgung weiterentwickeln
Eine stärkere Einbindung von Stationsapotheker:innen in die Behandlung chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen (CED) verbessert nachweislich das Sicherheitsgefühl der Patient:innen, fördert die Adhärenz und minimiert Risiken durch problematische Medikation. Das zeigt ein am Universitätsklinikum Regensburg realisiertes Pilotprojekt, das nicht nur klinisch validiert, sondern inzwischen dauerhaft implementiert wurde – und nun als Vorbild für andere Versorgungsstrukturen dient. Angesichts einer weltweit auf 6 bis 8 Millionen geschätzten Zahl an CED-Betroffenen, vor allem mit Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, unterstreichen die Ergebnisse die Notwendigkeit eines systemischen Paradigmenwechsels in der patientenzentrierten Medikation.
CED-Patient:innen haben häufig mit einer Vielzahl an gastrointestinalen Symptomen zu kämpfen – auch in endoskopischer Remission –, hinzu kommen teils gravierende Nebenwirkungen von Biologika und Immunmodulatoren. Die Therapielandschaft hat sich in den letzten Jahren diversifiziert: TNF-α-Blocker, IL-23-Inhibitoren und weitere spezifisch wirkende Biopharmazeutika erweitern das Repertoire jenseits von Corticosteroiden, Aminosalicylaten oder Azathioprin. Doch diese Vielfalt bringt neue Komplexität, Interaktionsrisiken und Beratungsbedarfe – und verlangt eine koordinierende pharmazeutische Begleitung, wie sie das interdisziplinäre Team am UKR vorbildlich ausgestaltet hat.
Im Rahmen der CED-Spezialsprechstunde führten Stationsapotheker:innen strukturierte Patient:inneninterviews durch, basierend auf standardisierten Fragebögen zu Therapieadhärenz, Wirkstoffsicherheit und dem persönlichen Beratungsbedarf. Ein vertiefter AMTS-Check auf Grundlage des Medikationsplans identifizierte Doppelverordnungen, obsolet gewordene Substanzen, Interaktionen mit Nahrungsergänzungsmitteln oder Off-Label-Selbstmedikation. Die daraus resultierenden pharmazeutischen Interventionsvorschläge wurden direkt mit den behandelnden Ärzt:innen abgestimmt und in das Gespräch mit den Patient:innen integriert. So entstand ein trialogischer Austausch mit konkreten klinischen Konsequenzen.
Besonders relevant war die Erkenntnis, dass selbst gut informierte Patient:innen weiterhin mit diffusen, aber stark verunsichernden Nebenwirkungsängsten leben – etwa in Bezug auf Karzinogenität, Fruchtbarkeit oder Langzeitwirkungen. Ein Großteil dieser Sorgen ließ sich durch gezielte, evidenzbasierte pharmazeutische Aufklärung entkräften. Darüber hinaus wurden bei zahlreichen Patient:innen notwendige Dosisanpassungen vorgenommen oder präventive Maßnahmen gegen potenzielle Nebenwirkungen initiiert.
Die Reaktionen der Teilnehmer:innen auf die pharmazeutische Mitbetreuung waren überwältigend positiv: Sie fühlten sich besser verstanden, sicherer in ihren Therapieentscheidungen und zeigten eine gesteigerte Bereitschaft, sich aktiv an der Krankheitsbewältigung zu beteiligen. Auch die Klinik zieht ein klares Fazit: Der multidisziplinäre Ansatz optimiert nicht nur die Medikationssicherheit, sondern verbessert auch die therapeutische Zielerreichung und entlastet ärztliches Personal durch präzise delegierte Informations- und Aufklärungsarbeit.
Für diese Versorgungsinnovation wurde das Projektteam mit dem ADKA-Innovationspreis 2025 ausgezeichnet. Die Daten des Pilotprojekts sind inzwischen im Fachjournal Frontiers in Medicine publiziert und dienen nun als Basis für eine kontinuierliche pharmazeutische Mitbetreuung an der Klinik für Innere Medizin I des UKR. Die Implementierung zeigt: Pharmazeutische Expertise kann weit mehr leisten als Arzneimittellogistik – sie ist integraler Bestandteil einer modernen, auf Sicherheit und Wirksamkeit fokussierten Hochleistungsmedizin.
Wirksamkeit zeigt Stabilität, Sicherheit überzeugt, Signalweg wird klinisch relevant
Wie Frexalimab über zwei Jahre neue Läsionen verhindert, Thromboembolien vermeidet und ein Immun-Target in der MS-Behandlung etabliert
Zwei Jahre nach Beginn der klinischen Prüfung zeigt sich: Der Antikörper Frexalimab bleibt bei schubförmiger multipler Sklerose (MS) nicht nur wirksam, sondern auch verträglich – und etabliert ein neues therapeutisches Target mit hoher klinischer Relevanz. Bereits in der initialen Phase-II-Studie hatte der CD40L-blockierende Antikörper die Entstehung neuer Läsionen signifikant verringert. Nun bestätigen Langzeitdaten, die auf dem CMSC 2025 Annual Meeting vorgestellt wurden, eine anhaltende Suppression der Krankheitsaktivität bei nahezu allen Patienten. Die Erkrankung bleibt in Schach, neue Läsionen treten kaum auf, und 92 Prozent der Behandelten bleiben über den gesamten Beobachtungszeitraum schubfrei – ein klinisch und immunologisch überzeugender Verlauf.
Das Studiendesign war präzise: In der randomisierten Phase-II-Studie erhielten 129 Patienten mit schubförmiger MS entweder eine hohe Dosis Frexalimab intravenös (1.200 mg alle vier Wochen), eine niedrigere Dosis subkutan (300 mg alle zwei Wochen) oder Placebo. Bereits nach zwölf Wochen lag die Zahl neuer Gadolinium-anreichernder Läsionen in der Hochdosisgruppe bei lediglich 0,2 im Durchschnitt (95%-KI: 0,1–0,4), im Vergleich zu 1,4 (95%-KI: 0,6–3,0) unter Placebo – ein Effekt, der sich im Open-Label-Follow-up über 96 Wochen weitgehend stabilisierte. Besonders bemerkenswert: Patienten, die von Beginn an hochdosiert mit Frexalimab behandelt wurden, wiesen auch nach zwei Jahren im Mittel nur 0,1 neue Läsionen auf – eine Zahl, die in klinischen MS-Studien Seltenheitswert hat.
Die Krankheitsstabilität zeigt sich auch im funktionellen Verlauf. Der EDSS-Wert, das etablierte Maß zur Erfassung des Behinderungsgrads bei MS, blieb bei den von Anfang an behandelten Patienten konstant. Jene, die zunächst Placebo erhalten hatten und später auf Frexalimab wechselten, erfuhren sogar eine leichte Verbesserung – ein Hinweis auf das potenziell regenerative Fenster der Immunintervention.
Frexalimab setzt an einem kostimulatorischen Schlüsselweg des Immunsystems an. Der CD40-CD40L-Pathway ist sowohl in der angeborenen als auch in der adaptiven Immunantwort zentral beteiligt und bei MS-Patienten nachweislich pathologisch aktiv. Studien zeigen, dass T-Zellen von MS-Betroffenen vermehrt CD40L exprimieren, und dass hohe Spiegel an löslichem CD40L im Serum mit einem erhöhten Behinderungsgrad korrelieren. Hinzu kommt: Genetische Prädispositionen und Hinweise auf eine Virus-getriggerte Expression – etwa durch das Epstein-Barr-Virus – verstärken die pathophysiologische Relevanz dieses Signalwegs.
Frexalimab unterscheidet sich dabei grundlegend von den bekannten CD20-Antikörpern. Während diese B-Zellen depletieren, blockiert Frexalimab lediglich die CD40L-Aktivierung, ohne Immunzellen zu zerstören – eine mechanistische Feinjustierung, die sowohl immunologisch als auch klinisch neue Spielräume eröffnet. Bemerkenswert ist insbesondere das Sicherheitsprofil: Während ein Vorgänger-Antikörper (Toralizumab) die Entwicklung wegen thromboembolischer Komplikationen nicht überstand, wurde unter Frexalimab in der aktuellen Studie lediglich ein einziger Fall einer Thromboembolie dokumentiert – bei einem genetisch vorbelasteten Patienten mit gleichzeitiger Infektion.
Das Gesamtbild aus Wirksamkeit, Stabilität und Sicherheit nährt nun die Erwartungen an die laufenden Phase-III-Studien FREXALT und FREVIVA, die Frexalimab bei schubförmiger und progredienter MS untersuchen. Die immunologische Logik, die klinische Erfahrung und das regulatorisch bislang unauffällige Sicherheitsprofil machen Frexalimab zu einem Hoffnungsträger in einem komplexen Krankheitsbild, dessen Therapie bislang oft mit systemischer Immunsuppression und relevanten Nebenwirkungen verbunden ist. Dass ein nicht-depletierender Antikörper eine derart starke Reduktion der Krankheitsaktivität bei gleichzeitig hoher Verträglichkeit zeigen kann, eröffnet neue Perspektiven – nicht nur für Patienten mit schubförmiger MS, sondern potenziell auch für andere Autoimmunerkrankungen, in denen CD40/CD40L eine Rolle spielt.
Neuer Warnhinweis, alte Verantwortung, verschärfte Pflichten
Paracetamol erhält aktualisierte Nebenwirkungsangabe zur HAGMA, Apotheken müssen auch bei Standardzulassung aktiv werden, BfArM fordert sofortige Anpassung
Ende 2024 empfahl der Pharmakovigilanzausschuss der Europäischen Arzneimittel-Agentur (PRAC), dass die Produktinformationen sämtlicher Paracetamol-haltiger Arzneimittel – ob als Monopräparat oder in Kombination – um einen neuen Risikohinweis erweitert werden müssen. Konkret geht es um die Aufnahme einer seltenen, aber potenziell schwerwiegenden Nebenwirkung: die Pyroglutaminsäure-Azidose, eine metabolische Azidose mit vergrößerter Anionenlücke (HAGMA). Die wissenschaftliche Bewertung eines entsprechenden Sicherheitssignals führte zu dieser Maßnahme, die nun auf nationaler Ebene durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) verbindlich gemacht wurde. In einer offiziellen Mitteilung forderte die Behörde sämtliche pharmazeutischen Unternehmer auf, ihre Fach- und Gebrauchsinformationen umgehend zu überarbeiten. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf zugelassenen Fertigarzneimitteln, sondern ausdrücklich auch auf Produkten, die unter der sogenannten Standardzulassung gemäß § 36 AMG im Markt sind – ein Umstand, der insbesondere viele Apotheken betrifft, die eigene Präparate auf Basis dieser Rechtsgrundlage herstellen oder vertreiben.
Die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) hat die Verpflichtung ausdrücklich bestätigt: Apotheken, die als pharmazeutische Unternehmer auftreten, müssen die neuen sicherheitsrelevanten Hinweise ebenfalls in ihren Beipackzetteln abbilden. Dabei sei die Quelle eindeutig – die EMA-Bewertung unter Beteiligung des PRAC –, und auch die Risikofaktoren sind mittlerweile klar definiert. Eine besondere Gefährdung für eine Pyroglutaminsäure-Azidose besteht vor allem bei gleichzeitiger Einnahme von Paracetamol und dem Isoxazolylpenicillin Flucloxacillin. Weitere begünstigende Faktoren sind chronische Niereninsuffizienz, Sepsis, Mangelernährung und Glutathionmangel – letzterer tritt unter anderem bei Alkoholabusus auf. Die Symptome dieser Azidose sind zunächst unspezifisch, können aber rasch schwerwiegend verlaufen: Patienten zeigen oft eine tiefe, schnelle Atmung (Kussmaul-Atmung), begleitet von Übelkeit, Erbrechen, Benommenheit und respiratorischer Erschöpfung.
Die EMA geht davon aus, dass die Pathogenese in einem erhöhten Anfall von Pyroglutaminsäure im Stoffwechsel liegt, der nicht mehr ausreichend über die Glutathion-abhängige Entgiftungsroute abgepuffert werden kann. In Kombination mit Flucloxacillin kommt es offenbar zu einer besonders ausgeprägten Akkumulation, da beide Substanzen in die gleiche metabolische Kaskade eingreifen. In seltenen, aber dokumentierten Fällen führte dies bei vulnerablen Patienten zur klinisch manifesten HAGMA – ein Krankheitsbild, das schnell als Paracetamol-induziert identifiziert werden muss, um Gegenmaßnahmen wie den Abbruch der Einnahme, die Korrektur der Azidose und ggf. die Substitution mit N-Acetylcystein zu ergreifen. Gerade deshalb ist die korrekte Patient*inneninformation im Beipackzettel essenziell.
Pharmazeutische Unternehmer – ob Konzerne oder Apotheken mit Herstellfunktion – müssen die vollständige Anpassung der Fachinformation (Abschnitt 4.4 und 4.8) sowie der Gebrauchsinformation (unter „Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen“ sowie „Nebenwirkungen“) durchführen. Das BfArM erwartet den zügigen Vollzug dieser Anpassung – für Standardzulassungen ebenso wie für zugelassene Präparate. Eine einfache Nichterwähnung im Fall von Standardzulassungen, wie sie gelegentlich in Apothekenpraxis vorkommt, wäre nicht nur regulatorisch angreifbar, sondern auch haftungsrechtlich brisant. Wer Paracetamol unter eigener Apothekenmarke oder als Bulkware mit patientenindividueller Konfektionierung abgibt, trägt die vollständige Informationspflicht mit – und ist rechtlich voll verantwortlich für Inhalt und Aktualität der Packungsbeilage.
Angesichts der hohen Verbreitung von Paracetamol als frei verkäufliches Analgetikum und Antipyretikum und seiner Anwendung auch bei vulnerablen Gruppen – von Kindern über Schwangere bis hin zu multimorbiden Senioren – ist die neue Warnung nicht nur eine regulatorische Maßnahme, sondern ein Beitrag zur Pharmakovigilanz im Alltag. Die Umsetzung liegt dabei nicht nur bei den Herstellern, sondern in Teilen direkt bei den Apotheken – und verlangt dort Aufmerksamkeit, organisatorische Sorgfalt und gegebenenfalls eine Nachschulung des Teams. Eine Anpassung der Software-Templates in Herstellungsmodulen, die Aktualisierung von Standardbeipackzetteln und die Dokumentation der Umstellung gegenüber Aufsichtsbehörden könnten notwendig sein. Auch eine interne Risikoanalyse zur Kombination mit Flucloxacillin – etwa bei der Herstellung von Rezepturarzneimitteln oder bei arzneimittelbezogener Beratung – ist sinnvoll. Denn dort, wo Apotheken als pharmazeutische Unternehmer Verantwortung tragen, genügt es nicht, auf die Industrie zu verweisen.
Adhärenz braucht Vertrauen, Medikationsanalyse braucht Klarheit, Statintherapie braucht Kommunikation
Wie Apotheken den Umgang mit Statinen optimieren, Medikationsfehler vermeiden und durch Aufklärung Leben retten können
Statine gehören zu den am häufigsten verordneten Medikamenten in Deutschland – über elf Millionen Menschen stehen auf der Liste, viele mit einer Polytherapie. Und doch bleibt ihre Einnahme umstritten, ihre Wirkung unterschätzt und ihr Potenzial oft ungenutzt. Apotheken kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: als Übersetzer komplexer Therapien, als Detektive bei Medikationsfehlern und als Mutmacher im Alltag der Patienten. Beim digitalen Fortbildungsformat »pDL Campus live!« wurde dieser Anspruch greifbar – mit vier essenziellen Tipps für den sicheren Umgang mit Statinen im Medikationsplan, klaren Hinweisen zur praktischen Adhärenzförderung und dem dringenden Appell: reden statt rätseln, begleiten statt belehren, strukturieren statt schweigen.
Dr. Katja Renner, erfahrene AMTS-Expertin, bringt es auf den Punkt: Wer einen Medikationsplan mit Statinen prüft, sollte sich vier zentrale Punkte sofort bewusst machen – mögliche Interaktionen, das Nebenwirkungsrisiko (insbesondere Myopathien), die Einnahmegewohnheiten sowie die therapieentscheidende Frage: Versteht der Patient den Sinn? Genau hier setzen Apothekerinnen und Apotheker an. Sie erkennen Pseudo-Doppelmedikationen, hinterfragen Dosierungen, identifizieren unnötig geteilte Tabletten und sensibilisieren für Nocebo-Effekte. Im konkreten Fall eines 75-jährigen Herzpatienten führte erst die Analyse durch die Apothekerin zur Entdeckung eines schwerwiegenden Problems: Die gleichzeitige Einnahme von Simvastatin 80 mg und einer Fixkombination mit Atorvastatin war weder dem Patienten noch der Hausärztin vollständig bewusst – der Kardiologe hatte die Dosis verdoppelt, ohne alle Beteiligten einzubeziehen.
Diese Konstellation ist kein Einzelfall, sondern ein systemischer Befund. Die Gründe für unklare Therapien reichen von schlechter Kommunikation zwischen Arztpraxen über unzureichende Aufklärung bis zur Selbstmedikation aus der Drogerie. Viele Patienten haben Angst vor Nebenwirkungen, insbesondere Muskelschmerzen. Dass diese nur selten tatsächlich vom Statin verursacht werden, weiß die Wissenschaft – der Patient aber erlebt seinen Schmerz subjektiv und zieht daraus voreilige Schlüsse. Statt auf ärztliche Rücksprache oder fachliche Beratung zu warten, greifen viele zu Magnesium oder setzen eigenmächtig die Therapie aus. Der Nocebo-Effekt ist real – und tödlich, wenn dadurch lebensrettende Therapien unterbrochen werden.
Prof. Dr. Ulrich Laufs, Kardiologe am Uniklinikum Leipzig, machte beim Fortbildungsevent unmissverständlich klar, wie eindrucksvoll die Datenlage zur lebensverlängernden Wirkung von Statinen ist. LDL ist kein nebensächlicher Laborwert, sondern ein zentraler kausaler Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen. Je niedriger der LDL-Spiegel, desto geringer das Risiko. Und je länger die Einnahme, desto größer der Nutzen. Diese Logik gilt auch für ältere Patienten – Altersdiskriminierung bei Lipidsenkern ist nicht evidenzbasiert, sondern gefährlich.
Was Apotheken konkret leisten können, wurde praxisnah verdeutlicht: Einnahmezeitpunkte vereinfachen, die morgendliche Applikation bevorzugen, Tablettenteilung vermeiden und Fixkombinationen empfehlen. Simvastatin ist durch seine kurze Halbwertszeit formal ein Abendpräparat – doch wenn dadurch die Regelmäßigkeit leidet, verkehrt sich die Empfehlung ins Gegenteil. Besser: morgens, gemeinsam mit den anderen Arzneimitteln. Denn alles, was die Therapie leichter macht, macht sie wirksamer.
Und was tun bei berichteten Muskelschmerzen? Erst differenzieren, dann agieren. Nur selten handelt es sich tatsächlich um eine Statin-assoziierte Myopathie. Eine dreiwöchige Pause mit anschließendem Re-Start in sehr niedriger Dosierung und mit einem anderen Wirkstoff kann helfen – nicht aus pharmakologischer, sondern psychologischer Sicht. Der Patient braucht das Gefühl einer Lösung, einer Alternative, einer Option. Diese Exitstrategie schützt nicht nur die Compliance, sondern auch die Vertrauensbasis.
Auch die Kombinationstherapie mit Ezetimib verdient mehr Aufmerksamkeit. Statt Statine unnötig hochzudosieren, empfiehlt sich bei Nicht-Erreichen der LDL-Zielwerte die Ergänzung mit einem zweiten Mechanismus – idealerweise in Form einer Fixkombination. Die Tablettenlast sinkt, die Adhärenz steigt. Dass diese Strategie mit nur geringen Mehrkosten verbunden ist, bestätigt ABDA-Arzneimittelexperte Dr. Martin Schulz – und sie ist ein sinnvoller Standardvorschlag in jeder Medikationsanalyse.
Nicht zuletzt sind Apotheken kommunikative Kraftzentren. Mit ihrem Zugang zu Patienten und ihrem pharmazeutischen Know-how können sie gegen gefährliche Fehlannahmen, Therapieverweigerungen und Angstmuster intervenieren. Es reicht nicht, gute Präparate zu verordnen – sie müssen auch genommen werden. Was banal klingt, ist in Wirklichkeit die entscheidende Barriere zwischen Studienerfolg und Alltagsversagen.
Statine retten Leben – aber nur, wenn alle Beteiligten ihren Beitrag leisten. Ärztliche Indikation, pharmazeutische Begleitung, therapeutische Aufklärung und vor allem: ein verständlicher, klarer, patientennaher Dialog. Die Verantwortung endet nicht mit der Verordnung – sie beginnt mit der Erklärung.
Dapagliflozin beeinflusst Leberfibrose, reduziert Entzündung, eröffnet MASH-Therapiepfade
Wie ein Antidiabetikum den Krankheitsverlauf der Fettleber verändern könnte, warum Fibroseregression neue Studien fordert und welche Rolle Semaglutid als Konkurrent spielt
Ein Antidiabetikum macht Hoffnung bei einer der häufigsten chronischen Lebererkrankungen weltweit: Dapagliflozin, bisher als SGLT-2-Hemmer bei Typ-2-Diabetes etabliert, zeigte in einer placebokontrollierten, multizentrischen Studie aus China klinisch relevante Effekte bei Patientinnen und Patienten mit metabolischer Steatohepatitis (MASH). Die Erkrankung – früher bekannt als nicht alkoholische Steatohepatitis (NASH) – ist das fortgeschrittene inflammatorische Stadium der Fettleber und geht häufig mit Fibrosen und hohem Progressionsrisiko einher. Mit Dapagliflozin gelang es in der Studie, sowohl die Entzündungsaktivität der Leber zu senken als auch bereits bestehende Fibrosen teilweise zurückzubilden – ein Signal, das Fachkreise aufhorchen lässt und möglicherweise einen neuen Indikationsbereich einläutet.
Insgesamt nahmen 154 Personen an sechs chinesischen Zentren teil, überwiegend Männer mit einem Altersdurchschnitt von nur 35 Jahren. Alle wiesen eine per Biopsie gesicherte MASH auf, rund 45 Prozent litten zusätzlich an einem manifesten Typ-2-Diabetes. Über 48 Wochen erhielten sie täglich 10 mg Dapagliflozin oder Placebo. Als begleitende Maßnahme fanden zwei strukturierte gesundheitsbezogene Interventionen statt. Die Ergebnisse nach der Interventionszeit wurden erneut histologisch erfasst – ein selten aufwendiger, aber besonders aussagekräftiger Weg in der Studienmethodik.
Die Resultate: Der primäre Endpunkt – eine signifikante Verbesserung der Steatohepatitis ohne gleichzeitige Fibroseverschlechterung – wurde von 53 Prozent der Dapagliflozin-Gruppe erreicht, gegenüber lediglich 30 Prozent in der Placebogruppe. Eine vollständige Auflösung der Entzündung zeigte sich bei 23 versus 8 Prozent. Noch bemerkenswerter: In 45 Prozent der Fälle verbesserte sich sogar die Fibrosesituation ohne Verschlechterung der entzündlichen Leberveränderung – auch dies deutlich häufiger als unter Placebo (20 Prozent). Die Abbruchquote war minimal. Das Studienteam spricht von einer potenziellen doppelten Wirkung, die sowohl immunologische als auch metabolische Pfade beeinflussen könnte.
Noch ist Dapagliflozin bei MASH nicht zugelassen. Doch in einem von therapeutischen Optionen weitgehend entleerten Feld könnte dieser Wirkstoff als Türöffner für eine multipel wirksame Stoffklasse fungieren. Die FDA hat in den USA bisher nur ein einziges Medikament zur Fettlebertherapie freigegeben – und das unter starken Auflagen. Umso relevanter werden weitere Studien, auch mit differenzierterer demografischer Zusammensetzung: Die geringe Zahl weiblicher Probandinnen sowie die ethnische Homogenität schränken die Generalisierbarkeit ein.
Ein anderer Kandidat auf dem Weg zur Fettlebertherapie ist Semaglutid – ebenfalls ein ursprünglich als Antidiabetikum entwickelter Wirkstoff. In aktuellen Studien zum Einsatz bei Herzinsuffizienz und Adipositas hat sich bereits gezeigt, wie flexibel das Substanzprofil ist. In der MASH-Forschung bleibt Semaglutid allerdings noch hinter der Fibrosewirkung von Dapagliflozin zurück. Die aktuelle Studie könnte daher ein Richtungsimpuls für zukünftige therapeutische Strategien sein – mit dem Potenzial, zwei der bedeutendsten Zivilisationskrankheiten zugleich zu adressieren: metabolisches Syndrom und Lebererkrankung.
Was Apotheken aus dieser Entwicklung mitnehmen sollten: Antidiabetika wie Dapagliflozin oder Semaglutid könnten mittelfristig für neue Indikationen relevant werden. Das betrifft nicht nur mögliche neue Rezepturen, sondern auch die Beratungskompetenz gegenüber Patientinnen und Patienten mit komorbider Fettleber. Die Abgrenzung von NASH, MASH und metabolischem Syndrom wird dabei ebenso zur Schlüsselkompetenz wie das Verständnis für klinische Studien und ihre Interpretation.
Neuer Wirkstoff hemmt TTR-Synthese, schützt Nervenzellen, stabilisiert Krankheitsverlauf
Eplontersen erweitert das Therapiearsenal gegen hereditäre ATTR-Polyneuropathie und stärkt die Bedeutung antisensebasierter Lebertargeting-Strategien
Mit Eplontersen steht seit Mai ein neues Antisense-Oligonukleotid zur Behandlung der hereditären Transthyretin-assoziierten Amyloidose mit Polyneuropathie (hATTR-PN) zur Verfügung – einer seltenen, fortschreitenden Systemerkrankung, die durch die Ablagerung fehlgefalteter Transthyretin-Proteine in Geweben zu multisystemischen Schäden führt. Der neu zugelassene Wirkstoff erweitert damit die therapeutischen Möglichkeiten für betroffene Patientengruppen mit nachgewiesener Mutation und neurologischer Symptomatik in den Stadien 1 und 2, kann unter Umständen aber auch über diesen Bereich hinaus eingesetzt werden, sofern der klinische Nutzen gegeben ist. Die Zulassung stützt sich auf die Ergebnisse der Phase-III-Studie NeuroTTRansform, in der Eplontersen signifikante Verbesserungen bei TTR-Serumspiegeln und neurologischer Progression zeigte – ein Signal für langfristige Krankheitsstabilisierung bei gleichzeitig gutem Sicherheitsprofil.
Pathophysiologisch basiert die ATTR auf einer Fehlfaltung des aus der Leber stammenden Transportproteins Transthyretin (TTR), das sich in Form amyloider Ablagerungen unter anderem im Herz und im peripheren Nervensystem ansammelt. Die hereditäre Form hATTR-PN betrifft primär die Nervenbahnen und kann zu schwerer sensorischer, motorischer und autonomer Dysfunktion führen. Die Zahl der Betroffenen weltweit liegt Schätzungen zufolge bei bis zu 40.000. Therapeutisch hat sich in den vergangenen Jahren ein Fokus auf RNA-gerichtete Technologien etabliert, die über gezielte mRNA-Interventionen die pathogene TTR-Produktion in Hepatozyten unterbinden. Zu den bereits verfügbaren Optionen zählen Patisiran, Vutrisiran und Inotersen.
Eplontersen (Handelsname: Wainzua®, AstraZeneca) gehört zu dieser pharmakologischen Klasse, unterscheidet sich aber durch seine GalNAc-Konjugation, die eine spezifischere Aufnahme in Leberzellen ermöglicht. Der Wirkstoff bindet selektiv an die TTR-mRNA, was über RNase-H-vermittelte Mechanismen zur Degradation führt. Die Folge ist eine drastisch reduzierte TTR-Synthesequelle – und damit eine Senkung der systemischen Amyloidlast. Im Vergleich zu älteren ASO-Vertretern wie Inotersen bietet Eplontersen eine höhere Selektivität und durch die vierwöchentliche subkutane Applikation auch eine geringere Injektionsfrequenz.
In der NeuroTTRansform-Studie erhielten 144 Patientinnen und Patienten alle vier Wochen 45 mg Eplontersen subkutan über insgesamt 65 Wochen. Als externer Vergleichsarm diente die Placebogruppe aus der NEURO-TTR-Studie zu Inotersen, was den Vorteil einer methodisch validierten Vergleichbarkeit trotz fehlender interner Kontrollgruppe mit sich bringt. Beide Studien wiesen identische Einschlusskriterien auf. Im Mittelpunkt der Auswertung standen zwei koprimäre Endpunkte: erstens die prozentuale Veränderung der Serum-TTR-Konzentration gegenüber dem Ausgangswert, zweitens die Veränderung des modifizierten neuropathy impairment score +7 (mNIS+7), eines differenzierten klinischen Scores zur Beurteilung der neurologischen Verschlechterung.
Die Ergebnisse fielen deutlich zugunsten von Eplontersen aus. Die mittlere Serum-TTR-Konzentration wurde innerhalb der Behandlungsdauer um rund 80 Prozent reduziert, wohingegen im externen Placeboarm lediglich eine Reduktion von etwa 10 Prozent festgestellt wurde. Auch im Hinblick auf die klinisch relevante Verlangsamung der neurologischen Verschlechterung überzeugte Eplontersen: Die mittlere Zunahme im mNIS+7 betrug in der Verumgruppe lediglich 3,2 Punkte, während der externe Vergleichsarm mit 26,3 Punkten einen signifikanten Progressionssprung verzeichnete – ein starkes Argument für die krankheitsmodifizierende Wirkung des Präparats.
Die Behandlung mit Eplontersen wurde insgesamt gut vertragen. Sicherheitssignale blieben überschaubar, insbesondere im Vergleich zu früheren ASOs, bei denen unter anderem thrombozytäre und renale Nebenwirkungen eine Rolle spielten. Die gezielte Leberabgabe durch GalNAc könnte dabei eine zentrale Rolle für das günstige Sicherheitsprofil spielen – ein Aspekt, der auch bei künftigen ASO-Entwicklungen in anderen Indikationsbereichen zunehmend an Bedeutung gewinnen dürfte.
Aus pharmapolitischer Sicht stellt die Eplontersen-Zulassung auch ein Signal für die zunehmende Relevanz personalisierter, RNA-basierter Arzneimittelstrategien bei seltenen Erkrankungen dar. Der Trend zu leberspezifischen Targeting-Strategien mittels GalNAc-Technologie und das Prinzip der subkutanen Langzeitapplikation eröffnen eine neue therapeutische Achse für chronisch-progrediente Systemerkrankungen. Zudem unterstreicht die Studie die regulatorische Bereitschaft, für ultrarare Erkrankungen auch externe historische Kontrollarme in die Zulassungsbewertung einzubeziehen – ein relevanter Paradigmenwechsel für zukünftige Arzneimittelentwicklungen im Bereich der Orphan Drugs.
Roboter imitiert Mimik, Affen folgen dem Instinkt, Müdigkeit wird zur sozialen Brücke
Wie ein gähnender Android Schimpansen zum Einschlafen bringt, was das über tierische Empathie verrät und welche Rolle künstliche Gesichter dabei spielen
Ein gähnender Roboter sorgt für schläfrige Affen – was zunächst wie eine skurrile Szene aus einem Science-Fiction-Film wirkt, hat nun wissenschaftlich belegten Hintergrund. Eine neue Studie, veröffentlicht im Rahmen eines interdisziplinären Projekts zur Tierverhaltensforschung und sozialen Robotik, zeigt: Schimpansen reagieren auf das Gähnen eines menschenähnlichen Roboters mit echtem Müdigkeitsverhalten. Damit greift ein maschinelles Signal tief in das soziale und neurologische Verhalten nicht-menschlicher Primaten ein – mit potenziell weitreichenden Implikationen für die Robotik, Evolutionsbiologie und Tierethologie.
Im Zentrum des Experiments steht ein hochentwickelter Android, ausgestattet mit 33 Mini-Servomotoren im Gesicht, die feinste Muskelbewegungen imitieren können. In mehreren Sitzungen wurde dieser Roboter gezielt eingesetzt, um gegenüber 14 Schimpansen neutrale Gesichtsausdrücke oder – in der Interventionsgruppe – wiederholte Gähnbewegungen zu zeigen. Die Reaktion der Tiere war bemerkenswert: Acht Tiere gähnten unmittelbar zurück, ein Verhalten, das als Indikator für empathische Spiegelung gilt. Ebenso viele legten sich im Anschluss zum Ausruhen nieder, wobei einige sogar ihre Decken oder Blätter zurechtzogen – ein Verhalten, das aus der natürlichen Schlaffvorbereitung bekannt ist.
Die Forscherinnen und Forscher werten dies als Hinweis darauf, dass das Gähnen nicht nur ein physiologisches Zeichen von Sauerstoffmangel oder Schläfrigkeit ist, sondern ein sozial codiertes Ruhe-Signal, das auch bei interspezifischer Kommunikation Wirkung entfalten kann – sogar dann, wenn es von einem künstlichen Wesen ausgeht. Besonders bemerkenswert ist, dass der Roboter kein Tier, sondern ein menschenähnliches Gesicht zeigte. Die Schimpansen folgten dennoch dem Reiz, als handele es sich um ein artverwandtes Signal. Dies deutet auf eine tieferliegende biologische Logik hin, bei der bestimmte mimische Bewegungsmuster – unabhängig von der tatsächlichen Art – als soziales Zeichen decodiert werden.
Das Experiment eröffnet neue Perspektiven auf die sogenannte ansteckende Müdigkeit: Das Phänomen ist bekannt aus Studien zu Menschen, Hunden oder anderen Primaten. Es gilt als evolutionäres Korrelat sozialer Bindung und synchronisierter Gruppenruhe. Dass nun auch Roboter in der Lage sind, diesen Reflex auszulösen, stellt die Frage nach der Bedeutung mimischer Kommunikation neu. Vor allem in der Debatte um empathiefähige Maschinen und ihren Einsatz in der Pflege, der Tierbeobachtung oder der Therapie könnte das Studienergebnis bedeutsam sein. Wenn Maschinen biologisch verwertbare Signale senden können, öffnet sich ein Tor zur sozialen Robotik, das bisher kaum beachtet wurde.
In der Forschung über Gähnen herrscht bislang noch große Unklarheit. Zwar ist das Verhalten universell über viele Säugetierarten hinweg beobachtbar, doch seine genaue Funktion bleibt spekulativ. Die neue Studie stützt nun die Hypothese, dass Gähnen eine Synchronisierungsfunktion innerhalb sozialer Gruppen haben könnte – sowohl was emotionale Zustände als auch physische Rhythmen betrifft. Die Schlafbereitschaft der Tiere nach dem maschinellen Gähnen ist damit nicht bloßer Zufall, sondern ein Indiz für diese übergeordnete Rolle des Signals.
Für die Robotik stellt sich nun die Herausforderung, solche mimischen Mechanismen gezielt einzusetzen – nicht nur zur Nachbildung menschlicher Verhaltensmuster, sondern zur gezielten Interaktion mit Tieren. Denkbar wäre ein zukünftiger Einsatz in Zoos, Forschungsstationen oder sogar im natürlichen Habitat, um durch maschinelle Kommunikation das Verhalten von Tiergruppen zu steuern, Stress zu reduzieren oder Interaktionen zu fördern. Die ethische Debatte wird dadurch freilich neu angefacht: Dürfen Maschinen so programmiert werden, dass sie gezielt soziale Reflexe in Lebewesen auslösen, auch wenn diese selbst nicht zur Kommunikation fähig sind?
Die beteiligten Forscher weisen darauf hin, dass das Projekt zunächst nur ein proof-of-concept sei – und keine konkrete Anwendung anstrebe. Dennoch sei das Ergebnis als bedeutsamer Schritt in Richtung einer „verhaltenswirksamen Robotik“ zu werten, die nicht nur auf Menschen, sondern auch auf tierische Kommunikation Rücksicht nimmt. Insbesondere in Bezug auf das Verständnis von Emotionen, sozialen Signalen und interspezifischer Empathie sei das Experiment ein Meilenstein.
Dass Gähnen auch zwischen Arten „ansteckend“ sein kann, ist übrigens kein Novum – bereits frühere Studien zeigten, dass Hunde sich vom Gähnen ihrer Halterinnen und Halter beeinflussen lassen. Neu ist allerdings die Erkenntnis, dass diese Wirkung auch von Maschinen ausgelöst werden kann. Die Frage nach dem Bewusstsein der Tiere, ihrer Fähigkeit zur Empathie und der Interpretation künstlicher Mimik wird dadurch komplexer – und faszinierender zugleich.
Glosse: Wenn Hilfsmittel zur Metapher verkommen, wenn Patientinnen zu Paketboten ihrer eigenen Versorgung werden, wenn das System sein Gesicht verliert
Wie ein Krankenkassenbruch Apotheken in Bedeutungslosigkeit stößt, Hilfsmittel zu logistischen Experimenten macht und Nähe durch Distanz politisch neu definiert wird
Die deutsche Gesundheitsversorgung hat jetzt ein neues Lieblingswort: „Leuchtturm“. Klingt irgendwie maritim, strahlend, richtungsweisend – ist aber vor allem eines: sehr, sehr weit weg. Wer künftig auf Inhalierhilfen, Kompressionsstrümpfe oder Windelhosen angewiesen ist, darf sich auf das neue Modell freuen: Versorgung auf Entfernung. Die IKK classic hat dafür mit chirurgischer Präzision einen landesweiten Vertrag beendet – und stattdessen ein Versorgungskonzept installiert, das Nähe durch Himmelsrichtung ersetzt.
Der neue Alltag: Apotheken gibt es weiterhin – aber nicht mehr für alle. Wer die Kompressionsstrümpfe der Oma besorgen möchte, plant heute keine Rezeptabholung, sondern einen Roadtrip. Zielkoordinaten: Hamburg, Berlin, Düsseldorf oder München. Das sind nicht etwa die vier neuen Gesundheitszentren Deutschlands, sondern schlicht die Standorte der sogenannten Leuchtturm-Apotheken. Wer dort nicht wohnt, wohnt versorgungsfern.
Für alle anderen gibt es Alternativen: Motivationsbroschüren. Mit Sprüchen wie „Auch weite Wege beginnen mit dem ersten Schritt“ oder „Ihre Gesundheit kennt keine Distanz“. Einfühlsam, stilvoll gedruckt, klimaneutral produziert – und dennoch völlig nutzlos, wenn das Inkontinenzmaterial fehlt.
Wer dennoch auf Hilfe hofft, bekommt Struktur statt Lösung. Der Express-Leuchtturm-Nachtversorgungs-Notfallantrag – kurz: ExLeuNaNo – soll das Unmögliche möglich machen: Notversorgung, werktags von 9 bis 16 Uhr, im Ausnahmefall auch mittwochs bis 13 Uhr. Per Fax, versteht sich. Digitalisierung im Gesundheitssystem ist eben eine Frage der Nostalgie.
Die Apotheken vor Ort? Dürfen Einzelverträge abschließen. Wenn sie wollen. Wenn sie können. Wenn sie noch durchblicken. Denn was früher zentral geregelt war, ist jetzt ein Sammelsurium aus Ausnahmen, Zusatzformularen, Abrechnungshindernissen und Unklarheiten. Viele Apotheken winken ab – nicht aus Trotz, sondern aus Selbsterhaltung.
Patientinnen und Patienten, die das betrifft, reagieren pragmatisch. Einige starten tatsächlich Wochenendausflüge zur Leuchtturm-Apotheke – Zelt, Kühlbox und Spielkarten inklusive. Denn wer seine Versorgung selbst organisieren muss, der organisiert auch gleich ein Erlebnis dazu. Zwischen Rezept und Rückfahrt passt immer noch ein Spaziergang durch die Innenstadt.
Die Verwaltung hat für all das eine Erklärung: Strukturwandel. Aus wohnortnaher Hilfe wird eine projektbasierte Fernversorgung mit Containerlösung. Apotheken werden zu Versorgungseinheiten, die sich den Kassen andienen dürfen. Patientinnen werden zu mobilen Einheiten der Selbstverantwortung. Der Weg wird Teil der Therapie.
Natürlich darf auch das Juristische nicht fehlen. Das Landgericht Frankfurt hat jüngst festgestellt, dass automatische Apothekenwahl bei Onlineplattformen wie DoktorABC keine Einschränkung der freien Wahl sei. Schließlich klickt der Mensch ja selbst. Und wenn er klickt, will er das ja. Selbstbestimmung als Einverständnis in Alternativlosigkeit – eine Haltung, wie gemacht für das Gesundheitssystem 2025.
In Niedersachsen beginnt man derweil mit einer neuen Ausschreibung. Denn wer strukturell abbaut, muss wenigstens kommunikativ wieder aufbauen. Zwischen Foldern, digitalen Landkarten und Hotline-Menüs entsteht ein neues Selbstverständnis: Versorgung ist kein Recht mehr, sondern eine steuerbare Option.
Was diese Glosse erzählt, ist nicht erfunden. Es ist nur – noch – unfassbar. Nicht in seiner Logik, nicht in seinem Aufbau, sondern in seiner Gleichgültigkeit gegenüber denen, für die Versorgung keine Frage des Konzepts ist, sondern des Alltags.
Früher war die Apotheke eine Selbstverständlichkeit. Heute ist sie ein Vorschlag. Wer sie braucht, muss sie finden. Wer sie findet, muss sie finanzieren. Wer sie finanzieren kann, darf hoffen – auf Kulanz, auf Vertragslage, auf Verfügbarkeit. Alles andere regelt der Zufall. Oder das Faxgerät.
Von Engin Günder, Fachjournalist