Rettung oder Resignation, Nachwuchskrise oder Neuanfang, Standortsicherung oder Stillstand
Wie Pantazis und Preis das Apothekensterben stoppen wollen, wer Reformen blockiert und warum bald die letzte Chance verstreicht
Dass Apotheken längst nicht mehr nur wirtschaftlich unter Druck stehen, sondern als strukturelles Element der Gesundheitsversorgung ins Wanken geraten, ist kein neuer Befund. Doch die politische Reaktion auf das Apothekensterben bleibt zaghaft – zumindest bisher. In diesem Kontext könnte das Treffen zwischen SPD-Gesundheitspolitiker Christos Pantazis und dem Präsidenten der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (Abda), Thomas Preis, mehr als nur ein formelles Gespräch sein. Es war ein Signal, dass die Zeit des reinen Zuhörens enden muss und konkrete politische Schritte erwartet werden – nicht irgendwann, sondern jetzt.
Bereits beim diesjährigen DAV-Wirtschaftsforum in Berlin hatte Pantazis das Gespräch mit Apothekenteams gesucht. Dort wurde klar: Es geht nicht mehr um kosmetische Korrekturen, sondern um die wirtschaftliche und strukturelle Substanz der Arzneimittelversorgung im Land. Die Teilnehmer machten keinen Hehl daraus, dass der seit über einem Jahrzehnt eingefrorene Apotheken-Festzuschlag ein zentrales Problem darstellt. Preis nutzte die Begegnung mit Pantazis, um diesen Punkt nochmals mit Nachdruck zu platzieren – und verband ihn mit einer Forderung: eine automatische, regelmäßige Anpassung des Honorars an die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.
Diese Dynamisierung, so Preis, sei nicht nur gerechtfertigt, sondern zwingend notwendig, um den Nachwuchs zu sichern und Apothekenübernahmen überhaupt noch wirtschaftlich attraktiv zu machen. Die Realitäten am Markt zeichnen ein deutliches Bild: Immer mehr Standorte geben auf, junge Pharmazeutinnen und Pharmazeuten scheuen den Schritt in die Selbstständigkeit, weil die Perspektiven zu unsicher sind. Der Rückgang der Apothekenzahl, der sich zuletzt auf unter 17.500 bundesweit beschleunigte, ist kein Zufall – sondern das Ergebnis politischer Untätigkeit, regulatorischer Fehlanreize und struktureller Ignoranz.
Pantazis wiederum zeigte sich offen – und betonte im Anschluss, wie wichtig es sei, die Apotheken in ihrer Rolle als wohnortnahe Gesundheitsdienstleister zu stärken. Dabei ging es im Gespräch nicht nur um ökonomische Fragen. Auch neue Versorgungsaufgaben wurden angesprochen, etwa im Bereich der Prävention, Medikationsberatung, Impfleistung oder Versorgung älterer Patient:innen. Preis machte deutlich, dass Apotheken bereit seien, Verantwortung zu übernehmen – allerdings nur unter fairen, tragfähigen Rahmenbedingungen.
Die Symbolik des Treffens ist nicht zu unterschätzen. Ein Gesundheitspolitiker der Regierungsfraktion trifft den Spitzenvertreter der Apothekerschaft – und beide sprechen vom „unverzichtbaren Baustein“ der Apotheken in der Versorgung. Doch Symbolik allein reicht nicht. Was nun folgt, ist ein Lackmustest für die SPD-Gesundheitspolitik: Gelingt es Pantazis, seine Koalitionäre – insbesondere aus dem Finanz- und Wirtschaftsflügel – davon zu überzeugen, dass eine nachhaltige Apothekenpolitik keine Belastung, sondern eine Investition in die Versorgungsinfrastruktur ist?
Mit Blick auf die laufenden Gesetzesvorhaben kündigte Pantazis einen fortgesetzten Dialog an. Preis wiederum signalisierte, dass die Abda diesen Weg mitgestalten will, solange aus Worten Taten werden. Beide Seiten wissen: Noch ein verlorenes Jahr kann sich das System nicht leisten. Das Gespräch war ein Anfang. Die Umsetzung entscheidet.
Man kann das Gespräch zwischen Pantazis und Preis als Zeichen der Annäherung deuten – oder als spätes Eingeständnis politischen Versagens. Fakt ist: Dass überhaupt ein solches Gespräch als „positives Signal“ gewertet wird, zeigt, wie tief die strukturelle Krise inzwischen reicht. Die Apotheken in Deutschland stehen nicht nur wirtschaftlich unter Druck, sie verlieren auch politisch an Rückhalt. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der ihre Bedeutung für die Versorgung älterer, chronisch kranker und mobilitätseingeschränkter Menschen stetig wächst.
Dass ein Gesundheitspolitiker der SPD zuhört, ist zu begrüßen. Dass das mehr als zwölf Jahre nach der letzten Honorarerhöhung geschieht, ist jedoch ein Armutszeugnis. Die Versorgungsrealität hat sich längst verändert – nur die politische Honorierung nicht. Apotheker:innen übernehmen neue Aufgaben, sichern Versorgungslücken, beraten, impfen, liefern nach Hause – aber werden dafür systematisch unterfinanziert. Wer unter diesen Bedingungen noch an Standorttreue glaubt, glaubt auch an Heilung durch Aspirin allein.
Die Forderung nach einer dynamisierten Vergütung ist deshalb keine Luxusdebatte, sondern die logische Konsequenz einer veränderten Versorgungslandschaft. Was die Ärzteschaft längst selbstverständlich als Orientierungsgröße nutzt – nämlich die Kopplung an wirtschaftliche Rahmendaten – bleibt Apotheken verwehrt. Und das, obwohl sie als erste Anlaufstelle in vielen Quartieren agieren, in ländlichen Regionen oft die letzte verbliebene Gesundheitsinstanz sind und pandemiebedingt erhebliche Zusatzleistungen erbracht haben.
Pantazis weiß um diese Schieflage – doch ob er sie korrigieren kann, steht auf einem anderen Blatt. Innerhalb der Ampelkoalition kämpfen sozial- und gesundheitspolitische Anliegen regelmäßig gegen fiskalische Dogmen. Die FDP wird kaum ohne weiteres einem Aufwuchs zustimmen, die Grünen lavieren zwischen Pflegepriorität und Digitalbegeisterung. Es bleibt an der SPD, diesen Konflikt auszutragen – und nicht nur Dialogbereitschaft, sondern auch Prioritätensetzung zu beweisen.
Die Zeit drängt. Jede Apothekenschließung ist ein Verlust, der sich nicht rückgängig machen lässt. Mit jedem Standort, der aufgegeben wird, verschwindet Versorgungsdichte, Beratungskompetenz und wohnortnahe Sicherheit. Und mit jedem dieser Fälle wird auch die nächste Generation von Apotheker:innen skeptischer: Wofür sich selbstständig machen, wenn das System keinen Halt bietet?
Pantazis hat jetzt die Chance, aus dem Gespräch mit Preis mehr zu machen als einen Fototermin. Er kann zum politischen Brückenbauer werden – oder zum nächsten Namen auf der langen Liste derer, die zuhörten, aber nicht handelten. Noch ist beides möglich. Doch das Zeitfenster schließt sich schnell. Wenn der SPD-Politiker wirklich liefern will, muss er die Dynamik nicht nur verstehen, sondern politisch erzwingen. Nicht in einem Jahr, nicht nach der nächsten Wahl – sondern jetzt.
Pantazis übernimmt, Machalet führt, Lauterbach wechselt
Wie die SPD Ausschüsse neu verteilt, Zuständigkeiten verlagert und Gesundheitspolitik neu akzentuiert
In der SPD-Bundestagsfraktion sind die gesundheitspolitischen Weichen neu gestellt worden: Der Neurochirurg Dr. Christos Pantazis übernimmt ab sofort die Rolle des gesundheitspolitischen Sprechers der Fraktion. Die promovierte Volkswirtin Dr. Tanja Machalet wird zur Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestags ernannt. Beide zählen zu den profilierteren gesundheitspolitischen Stimmen der SPD und sind mit den Strukturen im parlamentarischen Raum bestens vertraut. Die Verteilung der Positionen markiert eine strategische Neuausrichtung der Partei mit Blick auf die künftigen Gesetzesinitiativen im Gesundheitswesen – insbesondere im Spannungsfeld von Reformdruck, GKV-Finanzierung und Versorgungsgerechtigkeit.
Pantazis, der bereits in der vergangenen Legislaturperiode im Gesundheitsausschuss aktiv war, bringt nicht nur medizinische Expertise, sondern auch langjährige parlamentarische Erfahrung aus Niedersachsen mit. Seine künftige Aufgabe als Sprecher wird zentral für die Vermittlung und Formulierung der SPD-Linie in gesundheitspolitischen Debatten sein – gerade auch im Umgang mit dem drohenden Versorgungsabriss im ländlichen Raum, der Apothekenkrise und der Einbindung digitaler Gesundheitsdienste.
Machalet wiederum, die sich in Rheinland-Pfalz als sozialpolitisch versierte Abgeordnete profiliert hat, wechselt von der Sozial- in die Gesundheitspolitik – ein Schritt, der parteiintern als Zeichen für die engere Verzahnung beider Ressorts gewertet wird. Mit ihrer Erfahrung aus der Arbeit im Ausschuss für Arbeit und Soziales könnte sie zu einer Schlüsselakteurin bei der Bewältigung systemischer Übergänge im Gesundheits- und Pflegesektor werden.
Neben den beiden Führungspersonen komplettieren Claudia Moll, Matthias Mieves, Stefan Schwartze und Serdar Yüksel das SPD-Team im Gesundheitsausschuss. Damit setzt die Fraktion auf eine Mischung aus pflegepolitischer Erfahrung, Digitalisierungswissen und verankerter Kommunalpolitik.
Der Bundestag hatte in der vergangenen Woche die Einsetzung von 24 Ausschüssen beschlossen. Die SPD sicherte sich insgesamt fünf Ausschussvorsitze. Neben Gesundheit werden künftig auch die Ausschüsse für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend von der Partei geführt – mit SPD-Co-Vorsitzender Saskia Esken als neuer Vorsitzenden des Familienausschusses. Auch Ex-Minister Karl Lauterbach erhält ein neues Mandat: Er übernimmt den Vorsitz im Ausschuss für Forschung, Technologie, Raumfahrt und Technikfolgenabschätzung – ein Gremium, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, insbesondere im Hinblick auf KI-Governance, Arzneimittelforschung und Genomtechnologie.
Die SPD dokumentiert mit dieser Verteilung einen Führungsanspruch auf Feldern, die nicht nur klassische Verteilungsfragen betreffen, sondern grundlegend definieren, wie Zukunftspolitik im parlamentarischen Raum verhandelt und verantwortet wird.
Die SPD verlagert das gesundheitspolitische Gewicht neu – nicht durch radikale Personalwechsel, sondern durch kluge Positionsarchitektur. Dass mit Christos Pantazis ein Arzt mit Ausschusserfahrung zum Sprecher wird, ist ebenso wenig Zufall wie die Ernennung von Tanja Machalet zur Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses. Der eine kennt die Fachlogik, die andere das System. Zusammen bilden sie ein Tandem, das das überalterte Bild von Gesundheitspolitik als reiner Budgetverwaltung überwinden könnte – vorausgesetzt, die Fraktion gibt ihnen Raum zur Gestaltungsfreiheit.
Die Rochade hat Symbolkraft: Nicht nur wegen der Namen, sondern wegen der Kontexte. Pantazis kommt aus dem medizinischen Alltag, Machalet aus dem sozialpolitischen Maschinenraum – eine Kombination, die erkennen lässt, wohin die SPD inhaltlich strebt: raus aus dem Krisenmodus, rein in eine strategische Politikgestaltung, die Versorgung, Digitalisierung und Pflege nicht länger als getrennte Sphären betrachtet. In Zeiten, in denen Gesundheitsversorgung an der Basis bröckelt und ganze Apothekenstandorte wegbrechen, ist das keine rhetorische Geste, sondern dringend notwendige Realitätspolitik.
Noch interessanter ist die Neupositionierung von Karl Lauterbach. Der Wechsel vom Gesundheitsministerium in den Technologieausschuss liest sich wie ein Abgang auf Raten – oder wie eine gezielte Umverteilung von Verantwortung. Lauterbach, der als Minister stets zwischen Krisenbewältigung und medialer Selbstdarstellung pendelte, bekommt ein Ressort mit hoher Innovationsdynamik – aber geringerer Sichtbarkeit. Es könnte seine letzte Chance sein, wissenschaftliche Kompetenz in strategische Relevanz zu übersetzen.
Mit Saskia Esken schließlich wird eine SPD-Vorsitzende in einen Ausschuss versetzt, der oft als gesellschaftspolitisches Feuilleton des Bundestags belächelt wird. Doch genau dort, im Ausschuss für Familie und Jugend, entscheidet sich, wie ernst Parteien die soziale Realität ihrer Wählerschaft nehmen. Esken kennt die politische Tiefenstruktur – ob sie daraus konstruktive Hebel baut, bleibt offen.
Diese SPD-Aufstellung ist kein Coup, aber ein solides Re-Design. Entscheidend wird sein, ob der neue Zuschnitt auch zu neuen Impulsen führt – oder ob sich die Personalien in parteiinternem Protokollbetrieb verlieren.
Wenn Beratung stockt, wenn Zweifel lähmen, wenn Schweigen gewinnt
Wie Apotheken den Mut zum Gespräch verlieren, Verantwortung vermeiden und Selbstwirksamkeit verspielen
Sie sitzen da, schweigend. Das Gespräch wäre möglich, der Anlass gegeben, das Potenzial groß. Doch stattdessen geschieht – nichts. Kein Vorschlag für eine Beratung, kein Hinweis auf eine Therapieanpassung, keine Empfehlung für eine Medikationsanalyse. Stattdessen regiert der unausgesprochene Zweifel. Und genau hier beginnt ein Phänomen, das in der alltäglichen Praxis oft zu wenig Beachtung findet: die inneren Blockaden pharmazeutischer Fachkräfte, die den entscheidenden Schritt zur Intervention verhindern.
Diese Zurückhaltung ist selten rational, aber immer wirksam. Viele Apothekenmitarbeitende kennen das Gefühl, etwas vorschlagen zu wollen – und es im letzten Moment zu unterlassen. Weil man befürchtet, dem Gegenüber zu nahe zu treten. Weil man sich fragt, ob das eigene Wissen ausreicht. Weil die Sorge besteht, falsch verstanden zu werden oder „Belehrung“ zu vermitteln statt Unterstützung. Manchmal dominiert auch der Gedanke, dass man ohnehin nichts ändern könne, dass der Patient sich nicht öffnen werde oder dass der Arzt es besser wissen müsse. In all diesen Fällen entfaltet sich ein lähmendes Gemisch aus Unsicherheit, Rollenkonflikt und falscher Rücksicht.
Dabei ist es gerade diese Schweigespirale, die Versorgungsqualität mindert. Denn je häufiger Interventionen unterbleiben, desto stärker verfestigt sich das Gefühl von Ohnmacht im eigenen Handeln – und desto mehr gerät das pharmazeutische Selbstverständnis ins Wanken. Es geht nicht um Allwissenheit, sondern um Verantwortung. Und die beginnt mit der Bereitschaft, Gesprächsangebote zu machen, auch wenn sie nicht immer angenommen werden. Die professionelle Haltung drückt sich nicht im Rückzug aus, sondern in der Fähigkeit, Zweifel zu benennen, Haltung zu zeigen und zugleich offen für den Patienten zu bleiben.
Ein Schlüssel liegt im Training des eigenen Reflexionsvermögens. Wer seine inneren Bedenken erkennt, kann sie entkräften. Wer sein Fachwissen in kollegialem Austausch stärkt, gewinnt Selbstsicherheit. Und wer Beratung als Ausdruck von Beziehung statt Belehrung versteht, wird erleben, dass Gespräch nicht Störung, sondern Stärkung bedeutet. Der Mut zur Intervention beginnt mit der Erlaubnis, sich zu zeigen – als Fachkraft mit Kompetenz, mit Gefühl und mit dem Ziel, das Mögliche zu ermöglichen.
Der therapeutische Raum in der Apotheke ist kein Hörsaal, keine Bühne, kein Ort für Expertenmonologe. Und dennoch ist genau das die unterschwellige Angst vieler Mitarbeitender: sich dort zu exponieren, bloßzustellen oder abgewiesen zu werden. Die Angst, nicht alle Eventualitäten zu kennen. Die Furcht, eine Grenze zu überschreiten. Der Zweifel, ob das Gegenüber wirklich empfänglich ist. Das alles sind nachvollziehbare Reaktionen – aber sie dürfen nicht länger als Ausrede gelten.
Was im Hintergrund wirkt, ist nicht mangelndes Wissen, sondern ein übersteigertes Bedürfnis nach Kontrolle – über den Gesprächsverlauf, über das eigene Auftreten, über die Wirkung auf den anderen. Doch wer Beratung und Therapieempfehlung nur dann äußert, wenn die Ausgangslage perfekt erscheint, wird dauerhaft stumm bleiben. Die Folge ist keine Neutralität, sondern Vernachlässigung. Denn das Unterlassen ist nicht neutral, es ist ein aktiver Verzicht auf Fürsorge.
Gerade die Apotheke lebt von der Zwischenmenschlichkeit. Kein anderer Ort im Gesundheitswesen erlaubt es, niedrigschwellig, spontan und regelmäßig in einen Kontakt zu treten, der mehr sein kann als Transaktion. Wer das erkennt, erkennt auch, dass Schweigen oft weniger mit Zurückhaltung als mit Selbstschutz zu tun hat – und dass dieser Selbstschutz langfristig das Gegenüber schädigt. Die therapeutische Beziehung beginnt nicht mit dem perfekten Satz, sondern mit dem Mut, überhaupt zu sprechen.
Deshalb braucht es in Apothekenteams nicht nur Wissen, sondern Debattenräume: Wo wurde Beratung verpasst? Was hat mich zurückgehalten? Wie hätte ich anders handeln können? Solche Gespräche sollten fester Bestandteil der Praxisroutine sein. Denn je mehr das eigene Zögern zum Thema wird, desto weniger Raum bekommt es in der Zukunft. Die Apotheke der Zukunft ist nicht die digitale – sondern die dialogische. Und die beginnt dort, wo innere Schranken nicht länger als Legitimation für kollektives Schweigen durchgehen.
Klare Regeln, starke Haltung, neues Vertrauen
Wie Führung Orientierung schafft, Teams wieder tragfähig werden und Unsicherheit Verantwortung weicht
„Gute Mitarbeiter sind kaum noch zu finden“ – dieser Satz fällt in vielen Apotheken inzwischen regelmäßig. Der Druck ist groß, qualifiziertes Personal zu halten oder überhaupt neue Mitarbeitende zu gewinnen. Aus Sorge, das bestehende Team zu verschrecken oder Bewerber zu verprellen, vermeiden viele Inhaber klare Ansagen, drücken sich vor kritischen Gesprächen und lassen Verhaltens-Grenzen verschwimmen. Doch gerade diese Unsicherheit erzeugt Reibung, Frust und Demotivation. Denn je diffuser die Erwartungshaltung ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie enttäuscht wird.
Ein zentrales Missverständnis besteht darin, Klarheit mit Härte zu verwechseln. Dabei bedeuten klare Regeln nicht autoritäre Strenge, sondern verlässliche Orientierung. Wer weiß, woran er ist, kann sich sicher bewegen – das gilt für neue Kräfte ebenso wie für langjährige Mitarbeitende. Fehlt diese Orientierung, entstehen Graubereiche, in denen sich einzelne zurückziehen oder andere übergriffig werden. Das Team verliert an Struktur, und mit der Struktur schwindet oft auch die Wertschätzung.
Gerade in kleinen Apothekenteams, die auf enge Zusammenarbeit angewiesen sind, ist dieser Verlust besonders spürbar. Wenn etwa Pünktlichkeit, Umgangston oder Urlaubsplanung nicht einheitlich geregelt sind, wachsen Missverständnisse und Konflikte unter der Oberfläche. Einzelne Teammitglieder fühlen sich benachteiligt, andere genießen vermeintliche Freiheiten – und die Leitung schweigt aus Angst, den ohnehin prekären Frieden zu stören. Doch wer auf Klarheit verzichtet, betreibt Selbstsabotage: Was als Schonung gemeint war, wird schnell als Gleichgültigkeit oder Inkonsequenz interpretiert.
Dabei braucht es keine straffen Dienstanweisungen, sondern gelebte, partizipativ entwickelte Teamregeln. Entscheidend ist, dass diese nicht von oben herab verordnet werden, sondern gemeinsam mit dem Team entstehen und regelmäßig überprüft werden. In einem solchen Prozess werden nicht nur Regeln formuliert, sondern auch Werte geklärt: Was ist uns wichtig? Wofür stehen wir? Welche Haltung erwarten wir voneinander?
Klare Regeln können entlasten – für alle Beteiligten. Sie helfen, Konflikte zu vermeiden, Entscheidungen zu begründen und Spannungen frühzeitig zu entschärfen. Sie stärken Führung, ohne autoritär zu wirken. Und sie machen aus einem Haufen Einzelner ein Team, das sich gegenseitig schützt, fordert und trägt. In Zeiten des Fachkräftemangels ist das nicht Luxus, sondern überlebenswichtig.
Wer gute Leute halten will, muss sie nicht nur fair bezahlen, sondern ihnen auch ein stabiles, verlässliches und respektvolles Arbeitsumfeld bieten. Klare Regeln sind keine Bremse, sondern ein Gerüst, das Zusammenarbeit überhaupt erst möglich macht – und das am Ende die Dynamik freisetzt, die so vielen Apothekenteams fehlt.
Die Klage über den Fachkräftemangel ist laut, aber die Antwort darauf bleibt oft leise. In vielen Apotheken herrscht eine Führungszurückhaltung, die unter dem Vorwand der Teamharmonie in Wirklichkeit eine gefährliche Leerstelle hinterlässt. Man will nichts falsch machen – und macht gerade dadurch alles falsch. Wer Regeln meidet, um gemocht zu werden, verliert schnell den Respekt des Teams. Denn dort, wo keine Haltung spürbar ist, regiert nicht Gleichheit, sondern Willkür. Und genau diese Willkür zerstört, was Apotheken in angespannten Zeiten am dringendsten brauchen: ein verlässliches Miteinander.
Der Irrtum beginnt bei einem grundlegend falschen Bild von Führung. Viele Inhaber scheuen Konflikte, weil sie glauben, sie müssten durch Konsens führen. Dabei ist Führung kein Beliebtheitswettbewerb. Sie ist ein Handwerk, das auf Klarheit beruht – nicht auf Konturlosigkeit. Wer Mitarbeitende schützen will, muss auch bereit sein, unbequeme Grenzen zu benennen. Wer gute Teamarbeit fördern will, darf sich nicht hinter Nettigkeit verstecken. Und wer Stabilität schaffen will, braucht Regeln, die nicht als Drohung, sondern als Versprechen verstanden werden: Hier ist der Rahmen, in dem wir uns gemeinsam sicher bewegen können.
Gerade in Apothekenteams, die durch Arbeitsverdichtung, ökonomischen Druck und wachsende Patientenerwartungen unter Dauerspannung stehen, braucht es diesen Rahmen dringender denn je. Doch die Realität sieht anders aus: Dienstpläne werden ad hoc angepasst, Konflikte werden ausgesessen, Urlaubsabsprachen mutieren zur Gefühlssache. Das ist keine Fürsorge – das ist strukturelle Gleichgültigkeit. Und sie hat Folgen. Denn die stärksten Leute gehen zuerst, wenn Regeln fehlen. Nicht weil sie autoritäre Systeme suchen, sondern weil sie ihren Beruf ernst nehmen. Wer Qualität liefern will, braucht ein Umfeld, das Verlässlichkeit nicht bloß predigt, sondern ermöglicht.
Der Appell zur Klarheit ist kein Ruf nach Härte. Im Gegenteil: Nur in einem Klima der Verlässlichkeit kann Vertrauen wachsen. Nur wer weiß, was gilt, kann auch Verantwortung übernehmen. Regeln sind keine Einschränkung, sondern ein Ausdruck gegenseitigen Respekts. Sie machen Führung sichtbar – und damit auch angreifbar. Doch wer diese Angreifbarkeit scheut, verfehlt die eigentliche Führungsaufgabe: Orientierung geben, Unsicherheit abbauen, Entwicklung ermöglichen.
Was also tun? Zunächst braucht es den Mut zur Selbstreflexion: Was lasse ich zu, das ich längst hätte ansprechen müssen? Wo drücke ich mich um klare Entscheidungen? Welche Spielräume dulde ich, die dem Team am Ende schaden? Die Antworten darauf fallen selten angenehm aus, aber sie sind der erste Schritt in eine Führungsrealität, die nicht länger vom Wunschdenken, sondern von Verantwortung geprägt ist.
Eine klare Teamstruktur ist keine Modefrage, sondern eine Voraussetzung für Zukunftsfähigkeit. Wer sich ihr verweigert, wird verlieren – nicht nur an Autorität, sondern an Menschen. Denn gute Mitarbeitende bleiben dort, wo sie sich ernst genommen fühlen. Und ernst genommen wird niemand in einem System, das keine Grenzen kennt.
Gute Führung beginnt nicht mit Lob, sondern mit Haltung. Wer führt, muss sichtbar sein. Wer sichtbar ist, muss angreifbar sein. Und wer angreifbar ist, sollte sich nicht fürchten – sondern stolz darauf sein, dass er nicht schweigt, wo Klarheit gefragt ist.
Wenn Sand den Weg versperrt, Recht zu spät kommt und Wärme fehlt
Wie ein bizarrer Machtkampf eine Apotheke in Nahe ins Chaos stürzte, Gerichte verzögern und Vertrauen zerstört wurde
Die Rosen-Apotheke in Nahe, idyllisch im schleswig-holsteinischen Kreis Segeberg gelegen, wurde in den vergangenen Monaten unfreiwillig zum Schauplatz einer Auseinandersetzung, die juristisch banal wirkte, in der Praxis jedoch dramatische Ausmaße annahm. Im Zentrum: Apotheker Arsalan Hidary, der die Offizin übernommen hatte, und seine Vermieterin, die ehemalige Betreiberin der Apotheke. Statt eines reibungslosen Übergangs entwickelte sich ein destruktiver Machtkampf.
Hidary, der das traditionsreiche Geschäft in neuer Verantwortung weiterführen wollte, sah sich schnell mit unerklärlichen Einschränkungen konfrontiert: Erst blieb die Heizungsanlage im Winter kalt – obwohl der laufende Apothekenbetrieb eine konstante Temperatur zwingend erfordert. Dann folgten Sandberge, die direkt vor dem Eingang der Offizin aufgeschüttet wurden. Kund:innen berichteten von erschwertem Zugang, Lieferdienste verweigerten teils die Annahme der Zustellungen, ältere Patient:innen blieben ganz fern. Die wirtschaftliche Lage verschärfte sich zusehends.
Hidary versuchte zunächst, den Konflikt außergerichtlich zu lösen – ohne Erfolg. Schließlich zog er vor das Amtsgericht Bad Segeberg und beantragte eine einstweilige Verfügung gegen seine Vermieterin. Das Gericht stellte sich klar auf die Seite des Apothekeninhabers: Die Maßnahmen seien unzumutbar, nicht durch das Mietverhältnis gedeckt und in ihrer Konsequenz existenzbedrohend.
Doch selbst nach dem Urteil bleibt vieles offen. Zwar wurde der Sand entfernt und die Heizung wieder in Betrieb genommen, doch der Vertrauensverlust ist massiv. Die Mitarbeitenden der Rosen-Apotheke berichten von angespannten Arbeitsbedingungen, Kund:innen äußerten sich gegenüber dem Team teils verunsichert über die Vorgänge.
Rechtsexperten sehen in dem Fall ein exemplarisches Beispiel für die Lücken im Schutzsystem von Apothekenmietverhältnissen. Da Apotheken durch Standorte gebunden sind und die Anpassung an neue Räumlichkeiten häufig genehmigungspflichtig ist, entsteht eine strukturelle Abhängigkeit von Vermietenden – ein Machtgefälle, das in toxischen Konstellationen wie in Nahe eskalieren kann.
Inhaber Hidary appelliert nun an die Politik, klare Leitlinien zu schaffen, wie Apotheken im Mietverhältnis besser geschützt werden können. Der Verband der niedergelassenen Apotheker prüft aktuell, ob juristische Leitlinien zur Prävention vergleichbarer Fälle entwickelt werden können.
Der Fall Nahe zeigt: Es braucht nicht immer Wirtschaftskrise, Lieferengpässe oder politische Reformen, um eine Apotheke ins Wanken zu bringen – manchmal reicht ein Sandhaufen und eine abgedrehte Heizung.
Manchmal verrät ein Sandhaufen mehr über den Zustand eines Rechtsverhältnisses als jedes Schreiben eines Anwalts. Der Fall Rosen-Apotheke in Nahe ist in seiner Absurdität kaum zu überbieten – und doch offenbart er eine erschreckend reale Leerstelle im Apothekenrecht. Dass eine Apotheke durch derart primitive, aber gezielte Maßnahmen wie Heizungsausfall und Zugangssperre an den Rand der Betriebsunfähigkeit gedrängt werden kann, zeigt nicht nur eine moralische Entgleisung auf Seiten der Vermieterin, sondern auch eine strukturelle Schwäche im Mietrecht für systemrelevante Einrichtungen.
Denn während Supermärkte, Banken oder Arztpraxen zumindest theoretisch flexiblere Standortoptionen haben, sind Apotheken durch Zulassungen, Raumkonzepte und Behördenvorgaben in einer selten diskutierten Immobilität gefangen. Wer diesen Standort hat, bleibt oft – nicht aus Loyalität, sondern weil ein Umzug einer Neugründung gleichkäme. Diese Abhängigkeit ist juristisch kaum abgefedert.
Es wird Zeit, dass die Rechtsprechung nicht nur Einzelurteile fällt, sondern Grundsatzlinien zieht: Ein funktionierender Betrieb ist kein optionaler Komfort, sondern Grundlage für pharmazeutische Versorgung. Wenn Eigentümer:innen versuchen, Nachfolger:innen durch psychologische und physische Blockade loszuwerden, dann sind Gerichte gefragt – nicht als späte Rettung, sondern als präventive Schutzinstanz.
Der Fall in Nahe ist kein Einzelfall, sondern ein Mahnmal. Und jeder Sandhaufen, der nicht geräumt wird, ist eine stille Einladung zur nächsten Eskalation.
Neue Kräfte, neue Karten, neues Kapital
Wie Pelion DocMorris strategisch stärkt, europäische Allianzen formt und den Apothekenmarkt neu sortiert
Ein prominenter europäischer Apothekenkonzern bekommt osteuropäische Verstärkung: Der polnische Gesundheitsriese Pelion hat sich im Zuge der jüngsten Kapitalerhöhung mit knapp zehn Prozent bei DocMorris eingekauft. Damit steigt ein neuer Großaktionär ein, der in seiner Heimat sowohl den größten Pharmagroßhändler als auch eine der größten Apothekenketten kontrolliert. Die Beteiligung erfolgte geräuschlos, aber gezielt – mit strategischem Potenzial für beide Seiten.
Pelion S.A. zählt in Polen zu den dominierenden Gesundheitsdienstleistern. Über die Tochtergesellschaft Polska Grupa Farmaceutyczna (PGF) beliefert die Holding landesweit Apotheken, Kliniken und Gesundheitseinrichtungen. Parallel betreibt sie unter der Marke „Dbam o Zdrowie“ (dt. „Ich kümmere mich um die Gesundheit“) rund 600 Apothekenfilialen – eine Größenordnung, die weit über das hinausgeht, was DocMorris bisher in Deutschland erreicht hat.
Dass Pelion nun als strategischer Investor bei DocMorris auftritt, deutet auf eine gezielte internationale Expansionsstrategie hin. Branchenbeobachter sehen darin ein deutliches Signal: Der Online-Apothekenmarkt soll nicht nur in Deutschland, sondern EU-weit strukturell neu ausgerichtet werden. Die Transaktion verschiebt die Kräfteverhältnisse in einem ohnehin angespannten Wettbewerbsumfeld.
DocMorris, zuletzt durch regulatorische Bremsen wie das E-Rezept-Chaos und stockende Umsätze unter Druck, erhält durch Pelion Rückendeckung – nicht nur finanziell, sondern auch logistisch. Die PGF verfügt über etablierte Distributionsstrukturen, moderne Lagerlogistik und eine digitale Handelsarchitektur, von der DocMorris unmittelbar profitieren könnte.
Internen Angaben zufolge erfolgte die Zeichnung der Aktien im Rahmen der Kapitalerhöhung diskret und ohne öffentliches Vorabinteresse. Die genauen Bedingungen der Beteiligung wurden nicht kommuniziert. Dennoch sorgt das Investment in Fachkreisen für Aufsehen – insbesondere wegen der geopolitischen Implikationen. Polen avanciert damit zum Impulsgeber für den digitalen Apothekenmarkt Westeuropas.
Während andere Investoren aus dem angelsächsischen Raum vorsichtig bleiben, nutzt Pelion gezielt die Schwächephase von DocMorris, um sich langfristig Einfluss auf eine Plattform mit großem Wachstumspotenzial zu sichern. Aus Sicht der Holding ergibt sich so ein Brückenkopf in den zentralen Online-Apothekenmarkt Europas – mit Zugang zu einem der wichtigsten E-Rezept-Testfelder.
Für DocMorris könnte der Einstieg eine Wende markieren: weg von der Defensivhaltung der vergangenen Monate, hin zu einem europäisch vernetzten Plattformkonzept. Die personelle Zusammensetzung des Aktionariats verschiebt sich damit ebenso wie der strategische Horizont. Ob aus der Minderheitsbeteiligung ein operativer Schulterschluss wird, bleibt vorerst offen – doch die Tür steht offen.
Der Einstieg von Pelion bei DocMorris ist mehr als eine Kapitalmaßnahme – er ist ein strategischer Umbruch mit Symbolkraft. In einer Phase, in der der Online-Apothekenmarkt zwischen politischer Blockade und wirtschaftlicher Stagnation verharrt, bringt ein Akteur aus Osteuropa die dringend benötigte Dynamik. Dass ausgerechnet ein polnischer Gesundheitskonzern mit klassischem Großhandelsprofil und starkem Apothekennetz jetzt zur Speerspitze digitaler Transformation avanciert, konterkariert das gängige Bild einer westlich dominierten Innovationslandschaft.
Pelion nutzt ein Momentum, das viele unterschätzen: Die strukturelle Schwäche der deutschen Digitalapotheke. DocMorris hat sich in den letzten Jahren zu sehr auf regulatorische Versprechen und politische Weichenstellungen verlassen – und wurde wiederholt enttäuscht. Das E-Rezept kam zu spät, zu inkonsequent und mit zu vielen Ausnahmen. Der Margendruck wächst, während die strategische Vision diffus bleibt. Genau hier setzt Pelion an: mit einem belastbaren Vertriebsnetz, einem funktionierenden E-Commerce-Rückgrat und einer Marktkenntnis, die nicht nur auf Theorie, sondern auf operativer Erfahrung fußt.
Die Beteiligung könnte sich langfristig als Brückentechnologie zwischen stationärem Fachwissen und digitalem Plattformanspruch erweisen. Denn anders als viele klassische Investoren versteht Pelion nicht nur Zahlen, sondern auch das Alltagsgeschäft der Arzneimittelversorgung. Das unterscheidet sie von reinen Kapitalgebern. Und das könnte DocMorris in einer kritischen Phase den nötigen Schub geben, um sich aus der Sackgasse der regulatorischen Abhängigkeit zu befreien.
Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage nach Kontrolle, Richtung und kultureller Kompatibilität. Ein polnischer Großkonzern als strategischer Partner bringt nicht nur Expertise, sondern auch Interessen mit. Der Apothekenmarkt ist ein emotionales Thema, in Polen wie in Deutschland – und politische Stimmungen können rasch kippen.
Pelion und DocMorris stehen also am Anfang einer möglichen Erfolgsgeschichte. Ob daraus ein europäisches Erfolgsmodell wird oder eine kulturelle Kollision mit Rückzieher-Potenzial, hängt davon ab, ob die Beteiligung von Vertrauen, Weitblick und echter Kooperationsbereitschaft getragen wird.
Machtwechsel vollzogen, Managementkopie gewagt, Marktrisiko programmiert
Wie Klosterfrau Börner ersetzt, Aristo-Strategien dupliziert und strategische Breite aufs Spiel setzt
Ein bedeutender Personalwechsel vollzieht sich bei Klosterfrau Healthcare: Stephan Börner, bislang Mitglied der Geschäftsführung, verlässt das Unternehmen auf eigenen Wunsch und aus privaten Gründen. Der Schritt kommt überraschend, auch wenn sich intern bereits seit Wochen Andeutungen verdichteten, dass ein Übergang vorbereitet wird. Nun wurde der Wechsel offiziell bestätigt – und auch Börners Nachfolger steht bereits fest: Er stammt, wie CEO Dr. Stefan Koch, aus dem Management von Aristo.
Die Personalie markiert einen Bruch und zugleich eine strategische Kontinuität. Börner war maßgeblich an der Neuausrichtung der Vertriebsstrukturen beteiligt, verantwortete zuletzt unter anderem die internationale Expansion im OTC-Segment und galt als ein zentraler Architekt für die operativen Effizienzprogramme der vergangenen Jahre. Unter seiner Führung wurden Schlüsselprozesse in der Supply Chain verschlankt, interne Schnittstellen neu konfiguriert und das Marketingportfolio gezielt auf margenstarke Kernpräparate zurückgeführt.
Dass sein Nachfolger ebenfalls aus dem Aristo-Umfeld stammt, darf als bewusste Entscheidung der Konzernleitung interpretiert werden: Die enge Verzahnung mit Dr. Kochs Führungserfahrungen und der dort entwickelten Unternehmensphilosophie soll offenbar strategisch gefestigt werden. Branchenbeobachter werten den Schritt als Indikator dafür, dass Klosterfrau künftig nicht nur auf personelle, sondern auch auf strukturelle Homogenität setzt – möglicherweise in Vorbereitung auf tiefere Integrationsschritte innerhalb des deutschen Mittelstands-Healthcaresektors.
Intern ist Börners Abgang mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden. Während manche Führungskräfte die neue Richtung begrüßen, äußern andere Bedenken, ob ein zu enger Kreis gleichartig sozialisierter Manager tatsächlich die notwendige Diversität in der Entscheidungsbildung gewährleisten kann. Gerade im zunehmend internationalen Umfeld, in dem Klosterfrau etwa mit seiner Präsenz in Ost- und Südosteuropa expandieren will, seien Erfahrungen jenseits der bisherigen Erfolgsmodelle dringend notwendig, so eine Führungskraft, die ungenannt bleiben möchte.
Der neue Geschäftsführer soll seine Position im dritten Quartal 2025 antreten und zunächst gemeinsam mit dem bestehenden Leitungsteam die Übergabe organisieren. Die genaue Aufgabenverteilung und inhaltliche Ausrichtung seiner Funktion wird derzeit noch überarbeitet. Klar ist nur: Mit dem Wechsel an der Spitze verliert Klosterfrau nicht nur einen erfahrenen Praktiker – sondern steht vor der Herausforderung, operative Beständigkeit und strategische Ambition in einer zunehmend unruhigen Marktlage auszubalancieren.
Die Personalie Börner ist mehr als ein Wechsel in der Führungsetage – sie ist ein Spiegelbild der tiefen Umbruchdynamik im deutschen OTC- und Healthcare-Mittelstand. Klosterfrau gehört zu jenen Unternehmen, die zwar auf eine jahrzehntelange Markenkraft zurückblicken können, sich aber gleichzeitig in einem Umfeld bewegen, das von Konsolidierung, regulatorischen Fesseln und disruptivem Wettbewerbsdruck geprägt ist. Der Abschied eines gestandenen Managers wie Stephan Börner öffnet nicht nur ein Kapitel für seinen Nachfolger, sondern wirft grundsätzliche Fragen zur strategischen Ausrichtung des Unternehmens auf.
Denn während die offizielle Kommunikation auf „private Gründe“ verweist – ein geläufiger Euphemismus für Rückzüge unter Kompromiss – bleibt unklar, inwieweit dieser Rückzug nicht auch Ausdruck interner Richtungsstreitigkeiten ist. Börner galt als pragmatischer Modernisierer mit starker Ergebnisorientierung, zugleich aber als jemand, der Wert auf operative Unabhängigkeit und offene Diskurskultur legte. Ob dies mit dem Führungsstil des neuen CEO langfristig kompatibel war, darf zumindest bezweifelt werden.
Die Besetzung der Nachfolge mit einem Aristo-Gewächs mag rational erklärbar sein – sie birgt jedoch die Gefahr eines Führungsbias, der sich zu eng an vertrauten Denkmustern orientiert. In einer Phase, in der neue Märkte erschlossen, innovative Vertriebswege erprobt und globale Lieferbeziehungen neu geordnet werden müssen, sollte Vielfalt in Perspektiven und Führungsstilen keine Option, sondern Pflicht sein. Klosterfrau riskiert, mit einer zu homogenen Führungsstruktur den Blick für alternative Szenarien zu verlieren – insbesondere dann, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sich weiter destabilisieren.
Der Zeitpunkt des Wechsels könnte kaum kritischer sein: Während politische Unsicherheiten in Osteuropa Lieferketten gefährden, die Inflation Beschaffungskosten verteuert und der Druck auf OTC-Margen durch Handelsketten steigt, müssen Pharmaunternehmen wie Klosterfrau gleichzeitig digitalisieren, neue Wirkstofflinien entwickeln und regulatorisch compliant agieren. Die Führung eines solchen Unternehmens erfordert mehr als Branchenkenntnis – sie verlangt strategische Breite, interdisziplinäre Offenheit und soziale Integrationskompetenz.
Bleibt zu hoffen, dass Klosterfrau diesen Spagat meistert – und der neue Mann an der Spitze nicht nur ein loyaler Vollstrecker, sondern ein gestaltender Treiber wird. Für Börner indes ist der Rückzug eine Zäsur – und vielleicht auch der Auftakt zu neuen Aufgaben jenseits der traditionellen Pharmastrukturen.
Systeme integrieren, Teams befähigen, Lager entlasten
Wie digitale Warenwirtschaft Apotheken strukturiert, Vertrauen ins Technische erzwingt und Papierflut konsequent ersetzt
In deutschen Apotheken zeichnet sich ein tiefgreifender Wandel in der Organisation der Warenströme ab. Die Digitalisierung der Warenwirtschaft schreitet voran – allerdings mit großen Unterschieden in Tempo, Tiefe und Umsetzungsbereitschaft. Während technologische Vorreiter unter den Apothekeninhaber:innen bereits auf vollintegrierte Cloudlösungen setzen, deren Algorithmen Lagerreichweiten kalkulieren, Verfalldaten überwachen und Bestellungen automatisieren, sehen sich andere noch mit Systembrüchen, händischen Erfassungen und chronischem Schnittstellenversagen konfrontiert.
Der Druck zu handeln steigt: Lieferengpässe, wirtschaftlicher Margenschwund und neue regulatorische Anforderungen machen eine exakte, transparente Warensteuerung zur Überlebensfrage. Dabei offenbart sich die digitale Warenwirtschaft als mehr als nur technische Modernisierung. Sie ist ein strategisches Werkzeug zur Effizienzsteigerung, Fehlervermeidung und Kostenreduktion – vorausgesetzt, sie wird konsequent und mit Blick auf das ganze Team eingeführt.
Denn genau hier liegt oft das Problem: Viele Apothekenteams sehen sich mit ungewohnten Interfaces, komplexen Funktionen und wachsendem Datenschutzaufwand überfordert. Die Einführung digitaler Prozesse verlangt nicht nur Software, sondern auch Schulung, Geduld und eine Führung, die digitale Kompetenz als Teil der Apothekenkultur versteht. Wer diesen Weg geht, profitiert mehrfach: von optimierten Lagerwerten über automatisierte Nachbestellungen bis zu einem klaren Plus an Transparenz gegenüber Steuerberater:innen, Betriebsprüfer:innen und eigenen Mitarbeitenden.
Insbesondere die Umstellung auf digitale Lieferscheine gilt in der Praxis als Gamechanger: keine Aktenordner mehr, keine langwierige Suche nach Belegen, keine Dopplung von Arbeitsschritten. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass alle Systeme miteinander sprechen – vom Warenwirtschaftssystem über die Rezeptabrechnung bis hin zur digitalen Buchführung. Wo das nicht gelingt, entstehen neue Reibungen.
Der wirtschaftliche Nutzen steht dennoch außer Frage: Weniger Lagerverluste, geringere Retouren, passgenauere Bestellungen. In einer Branche, in der jeder gesparte Arbeitsschritt mehr Zeit für die Kundschaft bedeutet, kann die digitale Warenwirtschaft zum zentralen Baustein einer zukunftsfähigen Apothekenführung werden.
Die Digitalisierung der Warenwirtschaft in Apotheken ist längst kein Kann mehr, sondern ein Muss – nicht aus technischer Begeisterung, sondern aus betriebswirtschaftlicher Notwendigkeit. Doch zu oft wird der Weg dorthin verfehlt, weil man ihn als reines IT-Projekt missversteht. Die besten Systeme nützen nichts, wenn sie am Verhalten der Menschen scheitern, die sie nutzen sollen.
Wer Digitalisierung wirklich will, muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass Technik allein Prozesse rettet. Es geht um Vertrauen in Datenflüsse, um eine neue Haltung zur Transparenz, um die Einsicht, dass Effizienz mehr verlangt als nur Automatisierung. Es geht um Schulung, Einbindung, Feedback und um die Bereitschaft, sich auch mit der eigenen Unsicherheit auseinanderzusetzen.
In einer Apothekenlandschaft, die unter Lieferengpässen, Personalnot und Dokumentationslast leidet, kann eine konsequent gedachte Warenwirtschaft der Hebel sein, der den Betrieb stabilisiert. Nicht die größte Software ist entscheidend, sondern die, die zur Struktur der Apotheke passt – und zum Team. Denn jedes System ist nur so gut wie die Menschen, die es tragen. Das Papier hat ausgedient. Was bleibt, ist die Verantwortung für eine digitale Ordnung, die mehr ist als nur Ordnung im Regal: eine Ordnung im Denken, im Handeln, im Zukunftsbild der eigenen Apotheke.
ARMIN vergessen, Vertrauen verloren, Versand verklärt
Wie Hofmeister den Dialog zwischen Ärzten und Apothekern retten will, Medikationsanalysen kritisiert und politische Trägheit entlarvt
Wenn es nach dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Stephan Hofmeister, geht, darf die politische Debatte über sektorübergreifende Versorgung nicht länger an Scheinlösungen hängen bleiben. Für ihn steht fest: Nur eine vertraute, auf Augenhöhe strukturierte Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern kann den Herausforderungen moderner Arzneimitteltherapie gerecht werden – und genau dafür sei die Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen (ARMIN) ein bislang vernachlässigtes Vorbild. Während die mediale und politische Aufmerksamkeit derzeit auf pharmazeutischen Dienstleistungen wie dem Impfen oder der Blutdruckmessung in Apotheken liege, warnt Hofmeister vor einem systemischen Missverständnis: Die Nähe zum Patienten, das kollegiale Gespräch zwischen Heilberuflern und die transparente Aufgabenteilung seien durch keine Plattform, keinen Algorithmus und keinen Versandhändler zu ersetzen.
Insbesondere der Vertrauensaspekt steht für Hofmeister im Zentrum: Ein Apotheker, der sich als verlängerter Arm einer Praxis begreift, könne ärztliche Therapieentscheidungen sinnvoll flankieren – ein fremder Versender hingegen bleibe außen vor. Dass ARMIN hier als Blaupause diene, sei kein Zufall: Standardisierte Kommunikationswege, persönliche Bekanntschaft der Beteiligten und ein gemeinsam gepflegter Medikationsplan hätten die Versorgungsqualität nachweislich verbessert. Dass ausgerechnet dieses Erfolgsmodell in der politischen Umsetzung gescheitert sei, zeige das Dilemma einer gesundheitsökonomischen Debatte, die lieber Leistungen delegiere, als Strukturen zu fördern.
Kritik übt Hofmeister auch an der Medikationsanalyse in ihrer derzeitigen Ausgestaltung. Ohne Anschlusskommunikation mit den verordnenden Ärzt:innen drohe die Analyse nicht nur ineffektiv zu bleiben, sondern die Therapietreue zu gefährden. Ein vermeintlich korrigierender Blick auf Rezeptdaten könne beim Patienten Zweifel säen, statt Klarheit zu schaffen. Die Apotheke dürfe niemals Kontrollinstanz des Arztes sein, sondern müsse in einem abgestimmten System mitwirken. Dass dieses System in ARMIN mit dem elektronischen Medikationsplan realisiert worden sei, verdeutliche, wie vielversprechend der Ansatz war – und wie fahrlässig dessen Ignoranz durch die politische Ebene wirkt.
Gleichzeitig nimmt Hofmeister die eigene Standesvertretung nicht aus der Pflicht. Die KBV sei zwar kein formaler Träger des Projekts gewesen, habe es aber stets unterstützt. Dass man sich öffentlich zurückgehalten habe, sei dem föderalen Aufbau der Kassenärztlichen Vereinigungen geschuldet – nicht etwa mangelndem Bekenntnis zum Projekt. Gerade deshalb fordert Hofmeister, ARMIN wieder auf die politische Agenda zu setzen. Denn in einer alternden Gesellschaft mit komplexen Medikationsregimen sei der Bedarf an strukturierter Kooperation größer denn je. Und dieser lasse sich nicht durch punktuelle Serviceleistungen in Apotheken oder eine softwaregestützte Wechselwirkungsprüfung erfüllen – sondern nur durch interprofessionelle Teamarbeit auf Basis persönlicher Verantwortung.
Es ist eine der bittereren Paradoxien im deutschen Gesundheitswesen: Projekte, die auf Kooperation, Qualität und gegenseitige Wertschätzung setzen, scheitern oft nicht an der Versorgungspraxis – sondern am politischen Unwillen, ihnen den institutionellen Raum zu geben, den sie verdienen. ARMIN steht exemplarisch für diese verfehlte Dynamik. Was als koordinierter, fachlich gestützter Schulterschluss zwischen Ärzten und Apothekern gedacht war, verkommt in der Retrospektive zur Fußnote eines Systems, das Effizienz über Beziehung, Kontrollillusion über Vertrauen und Scheinintervention über echte Integration stellt.
Wenn Hofmeister nun Klartext spricht, ist das mehr als ein Plädoyer für eine Neuauflage von ARMIN – es ist eine Generalabrechnung mit der funktionalen Entfremdung zwischen ärztlicher Heilkunst und pharmazeutischer Betreuung. Sein zentrales Argument ist nicht digital, nicht ökonomisch, sondern zutiefst menschlich: Ohne persönlichen Bezug entsteht kein gesundheitsförderliches Vertrauen. Ohne kollegialen Austausch bleibt Therapiesicherheit ein Algorithmusversprechen ohne Substanz. Und ohne strukturelle Rückbindung verkommt jede pharmazeutische Intervention zum Störsignal.
Gerade deshalb ist es absurd, dass ausgerechnet die Medikationsanalyse – hervorgegangen aus ARMIN – in ihrer heutigen Form von der ärztlichen Seite abgelehnt wird. Denn was nützt die beste Analyse, wenn ihr kein Gespräch folgt? Wenn Fehler zwar erkannt, aber nicht gemeinsam besprochen werden? Wenn ein Blick in die Patientensoftware als Hochmut empfunden wird, statt als Hilfestellung? Hofmeisters Einlassungen sind in diesem Licht kein konservatives Besitzstandsdenken, sondern ein Aufruf zur professionellen Demut. Wer Kooperation will, muss Gesprächsstrukturen schaffen. Wer Medikationssicherheit ernst meint, darf sich nicht auf Technik verlassen, sondern muss Interaktion ermöglichen.
Und schließlich ist seine Abgrenzung gegenüber Versendern nicht Ausdruck von Marktprotektionismus, sondern einer schlichten Einsicht: Gesundheitsversorgung lebt nicht vom Logistikzentrum, sondern vom zwischenmenschlichen Kontakt. Dass die Politik lieber Apotheken fürs Impfen bezahlt als dafür, sich mit Ärzten abzustimmen, sagt mehr über ihr Verhältnis zu Systemqualität als über die Apotheken selbst. Wer es ernst meint mit sektorenübergreifender Versorgung, kommt an ARMIN nicht vorbei. Nicht als Erinnerung – sondern als Zukunftsmodell.
Daten fehlen, Schuld wird verteilt, Klagen laufen
Wie ein Pharma-Gutachten die EU-Richtlinie zu Mikroschadstoffen ins Wanken bringt
Ein neues Gutachten des Beratungsunternehmens Ramboll, finanziert vom Branchenverband Pharma Deutschland, stellt die Grundlage der EU-Kommunalabwasserrichtlinie (KARL/UWWTD) grundlegend infrage. In der Debatte um die Eintragsquellen von Mikroschadstoffen in das kommunale Abwasser komme man zu dem Schluss, dass keine gesicherten öffentlichen Daten existieren, auf deren Basis sich die Verursacher zweifelsfrei bestimmen ließen. Die bisherige Position der EU-Kommission, wonach rund zwei Drittel der Spurenstoffe aus Humanarzneimitteln stammen, lasse sich laut dem Gutachten nicht mit belastbaren Fakten untermauern.
Der Branchenverband sieht darin eine erhebliche Schwäche in der Argumentation für die geplante vierte Reinigungsstufe in Kläranlagen, deren Kosten zu über 80 Prozent auf Pharma- und Kosmetikunternehmen abgewälzt werden sollen. Angesichts der fehlenden Datentransparenz fordern nun sowohl der Verband als auch die European Federation of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA), die EU-Kommission müsse eine neue, belastbare Folgenabschätzung zur KARL vorlegen. Auch das EU-Parlament hatte jüngst auf unklare Datenlagen und uneinheitliche Bewertungen der Auswirkungen hingewiesen.
Pharma Deutschland verweist darauf, dass Hinweise auf verschiedene Verursachergruppen in der Fachliteratur existieren, etwa Haushalte, Landwirtschaft oder Industrie – doch eine vollständige Analyse und öffentliche Verfügbarmachung dieser Informationen stehe weiter aus. Der Vorstandsvorsitzende Jörg Wieczorek appelliert daher an deutsche Wasser- und Abwasserverbände, eine vollständige Liste aller im Abwasser vorkommenden Spurenstoffe zu erarbeiten und offen zu legen. Nur so ließen sich faire Lastenverteilungen und sachlich fundierte Gesetzgebung erreichen.
Die Klage mehrerer europäischer Arzneimittelhersteller beim Europäischen Gerichtshof gegen die aus ihrer Sicht unfaire Kostenverteilung ist anhängig. Die Branche pocht auf eine Revision der Richtlinie und ein Ende der einseitigen Schuldzuweisung. Die Debatte um die Verantwortlichkeit für Umwelteinträge durch Mikroschadstoffe wird damit zur Grundsatzfrage europäischer Umwelt- und Industriepolitik.
Es sind nicht allein die Argumente der Pharmaindustrie, die diese Debatte so brisant machen. Es ist die strukturelle Leerstelle europäischer Umweltpolitik, die sich hinter den Forderungen offenbart. Wer in Brüssel eine milliardenschwere Nachrüstpflicht für Kläranlagen durchsetzt, ohne eine umfassende und nachvollziehbare Datenlage zu liefern, legt nicht nur der Industrie eine Last auf, sondern untergräbt das Vertrauen in faktenbasierte Regulierung. Es geht hier nicht um das Ob, sondern um das Wie.
Dass Pharmakonzerne im Verdacht stehen, mit ihren Wirkstoffen zur Belastung des Wasserkreislaufs beizutragen, ist unstrittig. Doch daraus folgt noch keine rechtssichere Beweisführung. Wenn nun aber ein vom betroffenen Industriezweig finanziertes Gutachten den Finger auf eine offene Flanke legt, dann verdient das nicht Abwehr, sondern Prüfung. Der Gesetzgeber muss sich fragen lassen, warum er den Nachweis schuldig bleibt, während die Betroffenen Milliarden zahlen sollen.
Während die EU-Kommission die Humanarzneimittel als Hauptverursacher ausgemacht haben will, fehlen bis heute belastbare quantifizierende Studien. Gerade angesichts der Tragweite der geforderten Investitionen kann es nicht genügen, auf Annahmen und Wahrscheinlichkeiten zu verweisen. Dass die EU-Parlamentarier bereits Konsequenzen ziehen und eine neue Folgenabschätzung einfordern, ist nicht nur politisch geboten, sondern demokratietheoretisch zwingend.
Auch Umweltpolitik muss sich an wissenschaftlicher Validität messen lassen. Einseitige Schuldzuschreibungen ohne transparente Basis bringen nicht nur finanzielle Schieflagen, sondern delegitimieren den klimapolitischen Konsens insgesamt. Wenn Ökologie und Industrie in Einklang gebracht werden sollen, braucht es mehr als Willen: Es braucht Beweise. Die aktuelle Debatte zeigt, wie weit davon selbst die europäische Politik oft entfernt ist.
Wenn Bindung zerbricht, Hormone stürzen und Hoffnung wächst
Wie postpartale Depression therapiert, neurochemisch erklärt und pharmakologisch neu gedacht wird
Sie kommt nicht mit Blitz und Donner, sondern schleichend, schwer fassbar und oft übersehen: Die postpartale Depression (PPD) betrifft jährlich hunderttausende Mütter, doch ihre Anerkennung als behandlungsbedürftige Erkrankung bleibt vielerorts unzureichend. In etwa 10 bis 15 Prozent der Fälle entwickelt sich innerhalb des ersten Jahres nach der Geburt eine manifeste depressive Symptomatik, die weit über das hinausgeht, was oft unter dem verharmlosenden Begriff „Baby Blues“ zusammengefasst wird. Während hormonelle Abstürze unmittelbar nach der Geburt als wesentlicher Auslöser gelten, wirken auch psychologische, soziale und biografische Belastungen als Katalysator. Besonders gefährdet sind Frauen mit vorbestehenden depressiven Episoden oder einer ausgeprägten psychischen Instabilität nach der Entbindung.
Das Krankheitsbild gleicht in vielen Aspekten einer klassischen Depression, trägt jedoch besondere Züge: Schuldgefühle, emotionale Taubheit gegenüber dem Neugeborenen, Selbstzweifel als Mutter, gepaart mit innerer Leere und Rückzug. Nicht selten verläuft die Symptomatik chronisch, wenn keine gezielte Therapie erfolgt – mit weitreichenden Folgen für die Mutter-Kind-Beziehung. Die Therapie orientiert sich an der Schwere der Symptome: Während leichte Formen primär psychotherapeutisch adressiert werden, erfolgt bei mittelschweren bis schweren Verläufen eine Kombination mit medikamentöser Behandlung. Dabei liegt der Fokus auf Wirkstoffen, die möglichst sicher während der Stillzeit anwendbar sind.
SSRI wie Citalopram und Sertralin gelten als Mittel der Wahl – insbesondere aufgrund der geringen Konzentration in der Muttermilch und der umfangreichen Studienlage. Ihr Wirkeintritt erfolgt verzögert, was eine engmaschige Betreuung durch Psychiater:innen oder Neurolog:innen erfordert. In besonders belastenden Fällen kommen ergänzend trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin oder der sedierende NaSSA-Wirkstoff Mirtazapin zum Einsatz. Beide gelten unter strengem Monitoring auch während der Stillzeit als vertretbar.
Neue Entwicklungen jenseits des Atlantiks könnten der Behandlung ein neues Tempo verleihen: Mit Brexanolon (infundierbar) und Zuranolon (oral) stehen zwei neurosteroidbasierte Therapien zur Verfügung, die rasch ansprechen und an den GABAA-Rezeptor andocken – ein revolutionärer Ansatz, der jedoch in Europa bislang nicht zugelassen ist. In Studien wurde ihre Wirkung bereits innerhalb weniger Tage bestätigt. Auch psychedelische Substanzen wie Psilocybin-Derivate oder inhalative Tryptamin-Analoga wie Mebufotenin befinden sich in der klinischen Prüfung. Erste Ergebnisse deuten auf eine anhaltende antidepressive Wirkung nach Einmaldosierung hin – bei deutlich verkürztem Wirkfenster im Vergleich zu klassischen Halluzinogenen.
Parallel wird zunehmend auch an präventiven pharmakologischen Strategien geforscht. Esketamin oder der Sedativum-Wirkstoff Dexmedetomidin zeigten in perioperativen Settings – etwa rund um den Kaiserschnitt – potenzialreduzierende Effekte auf das PPD-Risiko. Ob solche Ansätze in der klinischen Realität Bestand haben, bleibt offen.
Inmitten dieser Innovationen bleibt jedoch eine Konstante entscheidend: die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Hebammen, Kinderärzte und Psychiater müssen in der Lage sein, Symptome frühzeitig zu erkennen, Therapiepfade sicher zu begleiten – und das Tabu zu brechen, das rund um diese Erkrankung viel zu lange geschwiegen hat.
Das Problem beginnt nicht bei der Pharmakologie. Es beginnt mit einem gesellschaftlichen Blick, der die Wochenbettdepression entweder bagatellisiert oder romantisiert. Der Begriff „Baby Blues“ steht symptomatisch für ein weit verbreitetes Missverständnis: dass die Tränen nach der Geburt doch irgendwie dazugehören – als Teil des hormonellen Chaos, als fast erwartbare Reaktion auf die neue Rolle. Doch wenn Traurigkeit zur Ohnmacht wird, Nähe zur Qual und der Tag zu einer endlosen Wand, dann endet das Postkartenidyll und beginnt die Realität einer ernsten psychiatrischen Erkrankung.
Diese Realität braucht klare Worte, eindeutige Diagnosen – und ein funktionierendes Versorgungssystem. Doch genau da liegt das zweite Versagen: Viele Hausärzte, Hebammen und auch Fachärztinnen bleiben in einem diffusen Schweigen gefangen, wenn Patientinnen ihre Gefühle nicht mehr steuern können. Die frühzeitige Diagnostik wird durch Unsicherheit gehemmt, durch die Angst vor Pathologisierung oder – schlimmer noch – vor Stigmatisierung.
Medikamentöse Optionen sind vorhanden, wirksam und in vielen Fällen mit dem Stillen vereinbar. Doch häufig schrecken Patientinnen vor Antidepressiva zurück, weil die Aufklärung fehlt. Es mangelt nicht an Wirkstoffen, sondern an mutiger Information. Und an der Bereitschaft, neue therapeutische Wege einzuschlagen – sei es mit Neurosteroiden, psychedelischen Kurzzeittherapien oder präventiver Pharmakologie. Was wir brauchen, ist nicht ein weiteres Stillen-im-Fokus-Leitbild, sondern ein Bewusstsein dafür, dass auch die seelische Gesundheit der Mutter elementar zur frühen Bindung gehört.
PPD ist keine Schwäche, kein Luxusproblem, kein temporärer Zustand. Sie ist eine krankheitswertige Belastung, die Empathie, Präzision und eine moderne Versorgung verdient. Solange die Worte fehlen, bleiben viele Frauen im Dunkeln – selbst wenn der Himmel draußen längst wieder blau ist.
Von Engin Günder, Fachjournalist